Herr Tourette und ich
auf meinen eigenen Alltag zu. Zu viel Zeit schafft Raum für Nachdenken, was schnell in Zwangsgedanken übergeht, die sich nur zu leicht in Zwänge verwandeln, die noch leichter in Ritualen enden.
Am Mittwoch der darauffolgenden Woche stehe ich wie immer am Infotresen und versuche, den Kunden zu helfen. Unter anderem, indem ich einen jungen Mann mit Schlips davon zu überzeugen versuche, dass Lament von Ultravox zuzüglich einer Single von Soft Cell ihm im Büro mehr Respekt verschaffen wird als das jüngste, schmalztriefende Opus von Chris de Burgh. Ich kann nicht richtig verstehen, was er antwortet, sondern sehe ihn nur nicken und mit der neuesten Scheibe von Ultravox unter dem Arm zur Kasse gehen. Nur wenige Meter von mir entfernt, auf der Straße vor dem Schaufenster, entdecke ich sie. Die Frau in Weiß steht auf der Straße und sieht mich geradeheraus an. Sie sieht ernst aus, als sei sie wütend, als müsse sie sich gerade noch zwischen Pistole und Messer entscheiden. Sie bleibt minutenlang unbeweglich, wie auf dem Asphalt festgefroren, stehen. Ich weiß, dass sie mich ansieht, und sie weiß, dass ich sie entdeckt habe. Ich rechne damit, dass sie in den Laden kommt, aber als ich mich umdrehe, ist sie weg. Sie ist einfach verschwunden. Ich gehe zum Fenster, sehe hinaus auf die Straße, in den Laden, in den Nachbarladen, in den Eingang zum Einkaufszentrum, aber sie ist weg. Ich beginne zu zweifeln. Habe ich sie gesehen, oder war das eine Phantasie, ein Tagtraum, habe ich die Grenze überschritten, ist der Wahnsinn ein Teil von mir geworden, und ich ein Teil von ihm? Ich frage meinen Kollegen in der Jazz-Abteilung, einen herrlichen Freak mit Robin-Hood-Frisur und Baumwollweste, ob er eine Frau gesehen hat … eine Frau in Weiß. Er meint, sie gesehen zu haben, aber das hilft mir nicht weiter. Ich bezweifele, dass sie wirklich hier war. Der Gedanke verfolgt mich den ganzen Tag lang, was mir natürlich in gewisser Weise gefällt, denn der Gedanke an sie schiebt die Gedanken an Rituale und Zwänge weg – eine willkommene Auszeit.
Am nächsten Tag bin ich wieder in meinem schrägen Verhalten gefangen, die Auszeit ist vorüber.
Ich arbeite immer mehr im Zeitlupentempo. Das Umständliche hat das Effektive schon lange knockout geschlagen, und mir gehen langsam die Ausreden aus, ein Todesfall jeden zweiten Monat, das ist schon an der Grenze. Ich merke, dass selbst Johansen seine Haltung mir gegenüber verändert hat. Seine kleinen Understatement-Witze sind verschwunden, er trinkt nicht mehr mit mir Kaffee und redet kaum mehr über Fleetwood Mac, und die wenigen Male, dass wir Kontakt haben, redet er zu mir, nicht mit mir. Ich habe im Plattenladen länger gearbeitet als an irgendeinem anderen Ort, ich mache meinen Job und erfahre außerdem eine Zufriedenheit der Kunden, so dass mir scheint, ich könnte den Job behalten, solange ich will.
Ein Kunde in einem viel zu engen Dressman-Anzug mit rotem Schlips betritt den Laden. Sein Gesicht gleicht einer Tomate mit weißen Zähnen. Er riecht stark nach Aftershave, und sein Auftreten macht deutlich, dass er seit circa einhundertzehn Jahren nicht mehr freiwillig gelacht hat. Der Kunde spricht einen in eine undefinierbare Hähnchenstimme eingebackenen Hauptstadtdialekt. Er geht mir augenblicklich auf die Nerven. Dann bittet er mich, die neueste Platte von Roberto Primus zu holen. Ich zeige darauf, sie steht fünf Meter links von ihm. Aber er will, dass ich sie hole und als Geschenk einpacke. Ich bitte ihn, sie zu holen, denn sie steht ja nur fünf Meter (und eine Türschwelle) hinter ihm. Aber er weigert sich. Ich will mich nicht noch einer Stunde Ritualarbeit aussetzen, schließlich ist in zehn Minuten Mittagspause, und deshalb bitte ich ihn noch einmal, die Platte selbst zu holen, denn »sie steht doch da«. Aber der Kunde gibt nicht nach, er behauptet, es wäre mein Job, sie zu holen, ich würde dafür bezahlt und er hätte keine Zeit für so was. Das provoziert mich, zum Teufel … Ich gehe in die Abteilung Familienunterhaltung, fünf Meter weiter links, hole die Platte – und bleibe vor der Türschwelle stecken. Mitten im Ritual, als ich eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier zählen und auf einen blauen Punkt schauen muss, kommt der Kunde und reißt mir die Platte aus der Hand. »Idiot«, murmelt er. Er unterbricht das Ritual, was mindestens vier Wiederholungen zur Folge hat und gleichzeitig ein doppeltes Chaos im Kopf produziert, woraufhin die Tics
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