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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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zehn bleichfetten organischen Musiktechnikern. Also fangen wir an, über Hemden zu reden, über geschlossene Knöpfe, über Synthies, die wir sterben lassen möchten (Limahl), Synthies, bei denen wir gern dabei wären (Midge Ure), Hardrocker, die wir gern mobben würden (das Chefwalross) und weibliche Chefsynthies, mit denen wir gern mal essen gehen würden (Annabel Lamb und Alison Moyet). Ben ist die Sorte Mensch, bei der man nicht nach Gesprächsthemen suchen muss. Das Wort Schweigen existiert nicht in unserer Beziehung, im Gegenteil – Wortspiele und Verbalausfälle sprudeln nur so aus uns raus. Und ich mag das. Ich habe noch nie jemanden mit der verbalen Kapazität von Ben getroffen. Er hat immer was zu erzählen, und er ist witzig und vor allem direkt. Ich schaue zu ihm auf, und der Egoist in mir wird zu einem egoistischen Statisten reduziert. Aber ich mag das, und ich bin gern mit Ben zusammen. Wir gehen in bestimmte Musikkneipen in der Weststadt, schräge Stadtteile, synthige Stadtteile. Ben ist ein echter Hauptstädter – er kennt Locations, von denen kein anderer weiß, dass sie überhaupt existieren, er benimmt sich immer elegant, fährt seinen Stil, seine Worte, seine Pointen, ganz gleich, wem er begegnet. Er hat es leicht mit den Frauen, und die Frauen mit ihm. Und er mag mich. Wahrscheinlich gefallen ihm meine etwas verwirrten Pointen, die in acht von zehn Fällen wahrscheinlich reine Tics sind, aber keiner von uns weiß das immer so genau. Aber er beschneidet mich nicht, sondern ermuntert mich stattdessen, noch mehr zu geben. Ihm scheint egal, was ich sage, am wichtigsten ist ihm die Person, dieses Schräge, das er zwar nicht richtig einordnen kann, aber darauf verschwendet er auch gar keine Energie. Außerdem hat er es immer eilig, was perfekt zu mir passt.

    Ben arbeitet zusätzlich als Tontechniker bei Radio Nova, dem lokalen Radiosender. Ich hänge mit ihm da rum, quatsche mit den anderen, serviere ihnen meine Ticformulierungen – und kriege einen Job in einer Art Musikredaktion. Nach nur einer Woche kriegen wir eine eigene Radioshow, Das Frühstücksradio , drei Tage die Woche. Das Frühstücksradio ist eine Art Radiomanifest, das von Respekt und Glauben getragen ist und denen »da draußen mit allen Knöpfen zu und Midge Ure als Gottvater« huldigt.

    Wir lesen Zitate aus Zeitungen, spielen Platten, erfinden eigene Theorien, bringen improvisierte Vignetten, gefakete Interviews, Dichtung und Wahrheit. Und es funktioniert, wir kriegen gute Rückmeldungen und treue Hörer – vielleicht sind es vier, vielleicht vierundvierzig, vielleicht auch vierhundert. Die Anzahl Hörer interessiert uns nicht, wir wollen lieber produzieren und improvisieren. Wir erlernen das Handwerk Radioproduktion, machen alles selbst, schaffen etwas Eigenes und werden schon bald von der Redakteurin Karin, die wir alle attraktiv finden, gelobt. Sie ist so erwachsen, so sanft, so intellektuell, so schwarz gekleidet – und hat kaum einen Knopf zu. Sie erinnert an eine nordische Kate Bush, die große Schwester vom besten Kumpel, in die sich alle zufällig mal verlieben. Aber wir kriegen sie nie, und das hatten wir natürlich auch nicht geglaubt. Ben hat Frauen am Laufen, ich nicht. Stattdessen schwanke ich zwischen Hoffnung und Zwang, wagen oder nicht wagen. Im Sender habe ich ständig mit Frauen zu tun, komme aber nicht so weit, wie Ben es von sich behauptet. Aber ich merke, wie ich auflebe, ich kann in ein Mikrofon reden und improvisieren, ich werde gemocht und bin in gewissem Maße auch gefragt. Vielleicht bin ich dabei, etwas Neues an mir selbst zu entdecken, etwas, worauf ich stolz sein kann, eine heimliche Lust, einfach nur reden zu können und für null Kronen die Stunde eine Menge erfundenen Kram zu blubbern. Ich bin lieber arm und hoffnungsfroh als ein reicher Buddha- und Lagerarbeiter. Die Zwänge scheinen sich im Hintergrund zu halten, als sei zwischen den Ritualen und den Tics und den Zwängen eine Art Waffenruhe eingekehrt. Ben respektiert mich, ich weiß nicht warum, aber ich spüre es, und das reicht in gewisser Weise.

    Er holt mich früh am Morgen ab, dann fahren wir zum Sender, bereiten uns eine Viertelstunde lang vor und fangen um sieben Uhr an. Danach fahren wir in die Stadt, trinken Tee, essen Mittag, plaudern drauflos, analysieren das Frühstücksradio des Tages. Dann verschwindet Ben zu seinem bezahlten Job. Ich spaziere durch die Stadt und sehe mich um, höre Platten an, gehe wieder ins Synthie-Café und

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