Herr Tourette und ich
verschiedenen Türen und Strichen auf dem Fußboden hängen zu bleiben. Vor einer Woche noch bin ich mit dem Kunden mitgegangen, jetzt zeige ich – »da hinten, neben Meat Loaf« –, und der Kunde kann die Platte selbst holen. Wenn er sie doch nicht findet, dann muss ich zehn Meter + über zwei Türschwellen gehen, um ihm zu helfen. Manchmal tue ich so, als würde ich die Rufe der Kunden nicht hören, aber wenn Johansen im Laden ist, dann habe ich keine andere Wahl. Es kann auch passieren, dass er mir zuruft:
»Hol mal die neueste Platte von Alan Parsons Projekt.«
»Satan«, murmele ich.
»Was?«, fragt Johansen.
»Satan … wie Fish schon sagte.«
»Fish?«
»Fish, der Sänger von Marillion.«
»Was ist mit ihm?«
»Er sagt immer Satan, lesen Sie nur mal die Texte auf seiner neuesten Platte«, erfinde ich.
»Ach so …«
Der Kunde und Johansen sind dann von meiner Detailkenntnis beeindruckt, und ich komme wieder mal davon.
Es geht mir gut, und ich merke, dass ich trotz allem die Gedankenhölle in meinem Kopf auf diese Weise ganz gut im Griff habe. Klar, ich muss sieben, acht Mal während der Arbeitszeit verschwinden, gehe auf die Behindertentoilette und zwangshandele mich ab. Doch das ist nichts im Vergleich damit, wie es auf der Tontechnikerschule läuft.
Die Gegenwart des Chefproduzenten lässt mich augenblicklich die Konzentration verlieren. Das Loch in der Hose und die Ansteckungsgefahr und die möglichen Bakterien stören mich jetzt noch mehr als sonst, und eigentlich ist es sinnlos, die Schule überhaupt noch zu besuchen. Ich ritualisiere heimlich, und es scheint auch keiner etwas zu bemerken. Nicht einmal Ben. Und er ist der eigentliche Grund, dass ich an den Abenden noch auftauche. Er gibt mir etwas Positives, und das Positive wird mitten in all dem Ritualisieren und Zwangshandeln lebenswichtig für mich. Aber das beeinträchtigt die Psyche und vor allem den Körper. Ich bin angespannt, bewege mich steif, es fällt mir schwer, den Gesprächen zu folgen – die Müdigkeit verhindert die Konzentration, die Konzentration erzeugt Müdigkeit. Ich erwäge, mit der Schule aufzuhören. Bestimmt werde ich auch ohne die Tontechnikerausbildung in der Radiobranche klarkommen.
Der Job im Plattenladen macht mehr Spaß und kommt mir lebendiger vor als das abgeschlossene und feuchte, mit rotem Samt ausgekleidete Plattenstudio. Eines Tages sehe ich Dieter aus der Marzipanfabrik. Er steht in der Rockmusikabteilung und blättert und umarmt mich fast, aber nur fast, als ich mich von hinten anschleiche und frage, ob der Herr Schauspieler Hilfe benötigt. Er erzählt, dass der Job so ist wie immer, seit ich gekündigt worden bin, hat sich nichts verändert, und er denkt oft an diesen einen Fick damals in Deutschland. Er sucht nach einem Soundtrack für seine Dario-Fo-Geschichte und denkt darüber nach, La Traviata zu kaufen. Morgen wird er wiederkommen, und dann mit Geld, sagt er. Es ist das letzte Mal, dass ich Dieter sehe.
Ich nehme dieselbe Straßenbahn, gehe durch dieselben Straßen, sitze in denselben Cafés. Die Routine siegt über den Impuls, die Zwänge verfolgen mich.
Die Tics tauchen nicht so oft auf wie sonst, ich weiß nicht warum, vielleicht sind sie einfach zu müde und müssen sich ausruhen. Die Zwänge aber bedrängen mich immer mehr, jetzt sogar schon im Plattenladen. Ich versuche, sie wegzuschieben, indem ich ständig nach neuen Wegen suche, mich zu stimulieren, nach neuen Herausforderungen, um die Routine zu durchbrechen, das Vorhersagbare zu zerschlagen. Ich fange an, wie ein etwas verärgerter Geschmackspolizist aufzutreten, diskutiere mit den Kunden, komme mit Tipps, alternativen Tipps, einzigartigen Tipps, Synthie-Tipps. Ich erscheine mehr wie ein Musikprediger als wie ein Musikverkäufer. Ich will, dass die Kunden zu meinem Musikgeschmack konvertieren, und es wird immer mehr zu einem Sport für mich, möglichst viele auf meine Seite zu kriegen.
Kunde:
»Haben Sie die neueste Platte von Chicago?«
Chicago, dieser Scheiß, denke ich. »Ach so, Chicago«, sage ich.
»Haben Sie die?«
»Wie alt sind Sie?«
»Was?«, fragt der Kunde.
»Sie sehen viel zu jung aus, um Chicago zu mögen.«
»Finden Sie?«
»Ich finde es nicht, ich weiß es.«
»Sie wissen was?«
»Dass Sie zu jung sind, um nicht mal etwas anderes als Chicago auszuprobieren.«
»Ich mag Chicago.«
»Klar. Aber Sie sollten sich lieber mal fragen: Wer mag nicht Chicago? Chicago ist wie ein
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