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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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Laden. Sie fängt sofort an, die Country- und Western-Platten durchzublättern. Sie scheint nicht nach einem besonderen Künstler zu suchen, sondern blättert nur, um etwas mitzunehmen oder einen Künstler zu finden, den sie schon vergessen hatte. Fünf Minuten später hat sie die Country- und Westernabteilung verlassen, um sich elegant weiter in Richtung Pop und Rock zu blättern. Meine Abteilung. Ich weiß nicht recht warum, aber ich folge ihr mit dem Blick. Vielleicht sind es die schlohweißen Haare, die meine Aufmerksamkeit fesseln, aber vielleicht stört mich auch dieses ziellose Blättern, als hätte sie nichts anderes zu tun. Aber sie ärgert mich nicht, sondern fängt nur meinen Blick. Sie ist auch nicht übertrieben schön oder sinnlich, mindestens fünfzehn Jahre älter als ich und gehört zu Johansens Pferdeschwanzgeneration.

    Ich gehe zu ihr und frage, ob sie Hilfe braucht.

    Sie dreht sich zu mir um. Ihre Augen sind blau, das Gesicht hat Sommersprossen und wirkt ein klein wenig verlebt, aber vielleicht hat sie auch nur schlecht geschlafen. Sie sieht mich lange an. Ich wiederhole meine Frage, aber sie antwortet nicht.

    »Können Sie mir helfen?«, fragt sie schließlich.

    »Dafür werde ich bezahlt.«

    »Wirklich?«

    »Was?«

    »Werden Sie wirklich dafür bezahlt, mir zu helfen?«

    »Kommt drauf an.«

    »Worauf?«

    »Wobei Sie Hilfe brauchen.«

    Da lächelt sie, aber ohne die Zähne zu zeigen.

    »Ich weiß, was ich brauche, und ich weiß, dass Sie mir helfen können. Also, was glauben Sie, fehlt mir?«

    »Sie brauchen wahrscheinlich eine Portion Supertramp und vielleicht einen Willie Nelson, etwas Shirley Bassey würde auch nicht schaden. Aber vor allem brauchen Sie eine frisch reingekommene Sammel- LP mit englischer Synthiemusik.«

    Ich ticse ein Yes Sir, I can boogie raus.

    Dann zeige ich ihr die verschiedenen Möglichkeiten. Sie scheint keine davon zu kennen, ist aber neugierig.

    »Die Beste von Supertramp heißt Crime of the Century . Wenn Sie die kaufen, kriegen Sie eine Single gratis, die neueste von Soft Cells.«

    »Warum sollte ich Crime of the Century nehmen?«

    Zucken im Bauch, Geräusch . »Weil Crime of the Century nicht nur eine Platte ist, sondern eine ganze eigene Musikwelt. Sie werden erstaunt sein. Ich verspreche Ihnen, dass Sie diesen Monat nichts anderes werden hören können.«

    Plötzlich legt sie ihren Zeigefinger sehr vorsichtig auf meinen kleinen Finger.

    »Ich vertraue Ihnen«, sagt sie.

    Ich lächele sie an und bin ganz sicher, dass sie nach Mandarinen duftet.

    »Danke«, sagt sie und verlässt den Laden.

    Als ich mich umdrehe, steht Johansen bereit, um neu reingekommene Musikzeitschriften zu sortieren – Beat, New Musical Express, Schlager . Er sieht mich an, doch ehe er noch etwas sagen kann, kommt die Frau wieder in den Laden. Sie sieht mich an, als wäre sie reingelegt worden, und sie atmet schwer:

    »Können Sie … können Sie, indem Sie die Plattensammlung eines Menschen ansehen, etwas über die Persönlichkeit dieses Menschen sagen?«

    Lächerlich, denke ich. »Spannend«, sage ich.

    »Würden Sie das tun?«

    »Was denn?«

    »Meine Plattensammlung anschauen und mir sagen, was Sie sehen? Gehört das auch zu Ihrem Job?«

    »Schon«, sage ich, »das müsste ich können.«

    »Hier ist meine Adresse …«

    Sie gibt mir eine Visitenkarte. Keinen Namen oder Titel, und auch keine Telefonnummer, nur die Straße in schwarzen und gelben Buchstaben: Smestad Allé 4.

    Noch ehe ich sie fragen kann, ob das vielleicht ein Scherz ist, ist sie wieder weg. Aber sie hat nicht gelacht, das hat sie nicht. Aber ich lächele, das tue ich. Und Johansen sortiert weiter die Musikzeitschriften.

Man darf nie zu viel Zeit haben

    Die Ankunft der Frau in Weiß wird zu einem neuen Input, der die Zwänge für den Rest des Arbeitstages ein paar Meter auf Abstand hält. Es wird ein guter Tag. Nach der Arbeit rufe ich Ben an, und wir beschließen, die Sendung für den nächsten Morgen schon mal zu planen. Das ist sehr ungewöhnlich, dass ganze zehn Stunden vor der Sendung der Plan schon steht. Und das kann nur in einer Katastrophe enden. Was es auch tut. Weder Ben noch ich sind sonderlich kreativ, wenn es um detaillierte Planung geht. Während der Sendung geht alles schief. Wir fühlen uns steif und träge, langweilig und vorhersagbar, machen Amateurradio für bereits Erweckte. Aber wir lernen eine Lektion fürs Leben: Man darf nie zu viel Zeit haben. Dasselbe trifft auch

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