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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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denke mir neue Sachen für die Sendung am nächsten Tag aus.

    Ich stöbere in Secondhand-Boutiquen herum, kaufe billige synthige Hemden und schwarze Armeehosen. Zu Weihnachten wünsche ich mir Geld, und auch wenn meine Familie findet, dass das eine öde Wahl ist, so wähle ich doch das Öde, aber auf lange Sicht Sinnvolle – das Weihnachtsgeld verwende ich auf neue synthige schwarzweiße Lederschuhe mit glänzenden Metallspangen an den Seiten – Direktimport aus London. Natürlich ziehe ich Haargel, Schuhe und Kleider einem Mittagessen vor. Müsli und Dickmilch dienen ausgezeichnet zur Rund-um-die-Uhr-Ernährung. Der Eisenbahnermantel meines Großvaters ist bei meinen Radiofreunden und Ben ein großer Erfolg. Ein langer schwarzer, schwerer, uniformähnlicher Mantel mit zwei Reihen Goldknöpfen. In schwarzweißen Lederschuhen, Armeehosen, schwarzen Secondhand-Hemden, mit zurückgekämmtem kurzem Haar und in Großvaters Eisenbahnermantel fühle ich mich attraktiv und elegant und meinen Synthie-Idealen treu. Mein Selbstvertrauen wächst, und auf dem Nachhauseweg gehe ich in eines der größten Plattengeschäfte der Stadt und präsentiere mich als einen sehr erfahrenen Plattenverkäufer, eine Radiobegabung und einen organischen Musikliebhaber. Ich werfe ein paar Pointen ab, erzähle Anekdoten von Human League und ihrer Heimatstadt Sheffield, Human League, die gerade in diesem Moment aus den Lautsprechern im Laden tönen. Ich kriege sofort einen Job.

Kleinkarierte Routinemonster

    Der Chef des Plattengeschäfts heißt Johansen. Johansen ist ein softer Fünfundfünfzigjähriger mit Jeansjacke und weißem lockigem Haar, vorn weniger als hinten, was ein sicheres Zeichen dafür ist, dass er auf einen Pferdeschwanz spart. Er liebt Alan Parsons Projekt und Barclay James Harvest und verabscheut Fleetwood Mac, die nennt er Dünnschiss. Er erwidert kein Lachen, aber er begreift, dass ich meine Musikanekdoten drauf habe, dass ich reden und lachen kann, und so ist mein Platz hinter dem Infotresen. Und der Infotresen ist, wie der Name schon sagt, ein Tresen, hinter dem man steht und informiert. Über Künstler, alte und neue Platten, Remixes, Cover, Radioeinspielungen, Singles, Doppel- LP s. Meine Abteilung wird Pop und Rock. Kurz bestand die Gefahr, dass ich an der Kasse oder in der Einkaufsabteilung landen könnte. Das wäre vernichtend gewesen. An der Kasse zu sitzen bedeutet, dass man Geld anfassen muss … … das andere in der Hand hatten, das andere berührt haben, das verseucht ist, an dem Bakterien kleben, die anstecken, die mich anstecken, der ich nie wieder ich selbst sein werde …

    Die Einkaufsabteilung kümmert sich um die exakte Anzahl Plattenbestellungen, rechnet die exakte Anzahl verkaufter Exemplare gegen die exakte Anzahl eingekaufter. Das Exakte ist mein Feind, löst Probleme aus, eine potentielle Zwangszone – viermal zählen, den Hörer neunmal abnehmen, die Türschwellen bei eins, zwei, drei, vier, fünf + eins, zwei, drei, vier überschreiten …

    Deshalb passt der Infotresen perfekt zu mir. Ich kann den Körper hinter dem Tresen parken, sitzen oder stehen, mich an die Wand lehnen oder auf einem Bein stehen – das alles ist völlig egal, solange ich nur informiere und nett bin. Von elf bis vier arbeite ich im Laden. Und ich finde, ich mache einen guten Job. Ich verbreite Fröhlichkeit, beantworte musikalisch herausfordernde Fragen und rede gern mit den Kunden. Das hält mich bei Laune, ich kann die Rituale und die Zwänge begrenzen, die immer noch stichelnd und kochend, ticsend und zwingend irgendwo im Kopf herumlungern und darauf warten, wieder herauskommen zu können. »Schau an, mein kleiner Dummkopf, du hast wohl gedacht, du wärst uns los, was?«

    Langsam wird mir klar, dass aus der Sicht des Verkäufers die Musikbranche der Autobranche nicht unähnlich ist. Wenn man den Namen des Herstellers der Radaufhängung nicht kennt, dann denkt man sich einen aus. Der Kunde hat sowieso keine Ahnung und möchte vor allem nicht dumm wirken, weshalb er nur selten nachfragen wird – und der Verkäufer siegt. Ich verkaufe ein klein wenig besser Platten, als ich Zimtschnecken und Marzipan sortiere. Johansen selbst lobt mich, und ich habe das Gefühl, als würde meine neu gefundene positive Energie in die richtige Richtung fließen.

    Nach einer Woche aber kommen die Zwänge doch wieder auf Besuch. Ich fange an, mich weniger im Laden zu bewegen, und stehe meist hinter oder neben dem Infotresen, um nicht zwischen

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