Herr Tourette und ich
nicht schaffe, dann müssen sie vier x vier Mal wiederholt werden … und wenn ich es nach sechzehn Mal nicht schaffe … und immer so weiter. Zu Hause habe ich Zeit, niemand schaut zu, niemand kümmert sich darum – der Fernseher läuft, der Junge wird wohl fernsehen, wie es alle um diese Zeit tun. Ich beschließe, die Gardinen zuzuziehen, um mich ungestört den Zwangsgedanken und Ritualen widmen zu können, so kann niemand von der Straße hereinschauen oder mich vom Nachbarhaus ausspionieren. Und ich muss keine spontanen Besuche von meinen Geschwistern erwarten. So schaffe ich es, mich zu verstecken, ehe sie mich sehen. Sie dürfen mich so nicht sehen, denn dann werden sie mich garantiert aus dem Zimmer schleifen und in den ersten Zug nach Hause setzen.
An manchen Tagen geht es mir viel besser. Vor allem dienstags und mittwochs. Es geht mir besser, wenn ich etwas am Laufen habe – eine Radioidee, eine Jobidee, eine Idee, wie ich gesünder werden könnte. Wenn ich herumschlendere und weiter an diesen eher losen Ideen schmiede, dann können Stunden ohne einen einzigen Tic oder Zwangsgedanken vergehen. Aber ich merke, dass diese friedlichen Stunden immer seltener werden, sie entgleiten mir irgendwie, und ich weiß nicht, wie ich sie wieder herbeilocken könnte.
Sowie ich nach Hause komme, verstärken sich die Zwänge und das Bedürfnis zu ritualisieren, als würden die Gedanken dort unter dem Sofa liegen und nur darauf warten, zuschlagen zu können. Was noch vor wenigen Monaten ein Raum der Erholung war, ist jetzt ein Raum der Qualen.
Es kommt vor, dass ich ein Ritual um vier Uhr nachmittags beginne und es nicht vor neun Uhr abends abschließe. Dann habe ich fünf Stunden lang vor der Toilettentür gestanden und auf den perfekten Moment gewartet, um die Türschwelle zu überqueren, den Klodeckel hochzuklappen, den Pieseler aus dem Hosenladen zu holen (Hosenladen = Türschwelle), zu pinkeln (eins, zwei, drei, vier, fünf, Pause + eins, zwei, drei, vier + vier Wiederholungen). Ihn zurückstopfen (Hosenladen = Türschwelle), den Klodeckel runterklappen, Zehen aus den Schuhen. Ich setze mich hin, lege mich auf die Seite, mache den Fernseher an, führe die Kaffeekanne über den Strich zur Kochplatte, schalte die Kochplatte ein – alle diese Alltagstätigkeiten beanspruchen zunehmend mehr Zeit, erschöpfen den Körper immer mehr und ruinieren den größten Teil des Schlafs. Ich muss zählen, sehe Farben, wiederhole, hebe Körperteile im Winkel von fünfundvierzig Grad, zähle wieder, hebe wieder, wieder blaue Farbe, und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder + vier x vier x vier x vier Mal. Die meisten Abende gehen für Zwangshandlungen und Rituale drauf. Ich wage kaum, aufs Klo zu gehen aus Angst, dann dort drinnen vier Stunden lang festzusitzen. Auch mit dem Waschen habe ich Probleme – jeder Finger muss vier x vier Mal gewaschen werden, dasselbe Ritual gilt für Nägel und Augenbrauen und Nase. Weil ich im Erdgeschoss wohne, merkt die alte Dame nicht, dass das Wasser manchmal stundenlang ununterbrochen läuft. Zumindest sagt sie nichts. Hingegen kann es passieren, dass sie – mitten in der Ritualhölle – an meine Tür klopft und mir ein Stück von ihrem Pflaumenkuchen anbietet, den sie für ihre Bridgefreundinnen
Wenn ich nur eine Haushaltshilfe hätte
Es kann früher oder später Herbst sein. Es ist viel kälter geworden. Ich verliere langsam das Zeitgefühl, bekomme nicht mehr richtig mit, wenn eine Jahreszeit in eine andere übergeht, wenn aus Morgen Vormittag wird oder aus Nachmittag Abend.
Wenn ich spazieren gehe, kann ich mich erholen, da geschieht etwas mit den Gedanken. Je mehr der Körper in Bewegung ist, desto weniger aufdringlich werden die Rituale. Also fange ich an herumzulaufen, jeden Tag, mehrere Male am Tag. Ich gehe gegen zehn Uhr morgens los und komme nicht vor elf, zwölf Uhr am Abend nach Hause. Es gibt eine fest Vormittagsrunde – von zu Hause über Ullevål Hageby über Blindern über Majorstuen zur Konditorei Hansen am Hegdehaugsväg. Da lese ich die Zeitung, trinke Kaffee und esse eine Zimtschnecke. Ein paar Stunden später gehe ich ziellos in der Stadt herum, gucke Schaufenster an, sitze auf Bänken, sehe mir Straßenbahnen an, Flughafenbusse, Autos. Ich versuche möglichst nicht in Läden zu gehen. Da werde ich mit höchster Wahrscheinlichkeit vor irgendeiner Türschwelle hängen bleiben, was mindestens eine Stunde Ritualarbeit zur Folge haben wird. Der
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