Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
Vom Netzwerk:
ziellose Zustand hält mich am Laufen, als würde es mir besser gehen, wenn ich gar nichts mache, keine Risiken eingehe, nicht arbeite, nicht lerne, nicht denke, nur herumlaufe. Natürlich muss ich manchmal Risiken eingehen, vor allem, wenn es regnet oder zu kalt ist. Dann gehe ich in einen Plattenladen und höre mir stundenlang irgendeine noch nicht entdeckte Synthie-Scheibe an, bis man mir den klassischen Jetzt-musst-du-verdammt-noch-mal-kaufen-oder-verschwinden-Blick zuwirft. Den Blick, den ich vor wenigen Monaten noch selbst austeilte. Auf dem Weg aus Cafés oder Konditoreien heraus muss ich auch Türschwellen überschreiten, aber das ist die Mühe wert – nach einer Stunde Ritualarbeit schmeckt ein Kaffee einfach wunderbar. Wenn ich endlich durch die Tür komme, nachdem ich eine knappe Stunde lang versucht habe, den Ritualjob zu verbergen, dann gehe ich geradewegs zum Tresen, lächele, sage: »Sie ist nicht wie verabredet gekommen, aber eine Stunde, das ist zu viel, eine Tasse schwarzen Kaffee bitte.« Die Frau gibt mir den Kaffee und lächelt verunsichert. Nachmittags gehe ich immer in dasselbe Café – Fräulein Olsen am Bogstadsväg. Da sitze ich mehrere Stunden, da kann ich zwischen den Anfällen ein wenig ausruhen, da wirft mir keiner diesen Jetzt-musst-du-aber-mal-langsam-abhauen-Blick zu. Das kann daran liegen, dass meine Kleidung immer noch ganz passabel wirkt. Schwarzer Uniformmantel, gelbschwarzes Hemd (alle Knöpfe zu), schwarzweiße Synthie-Schuhe. Die Haare eine fette, hochstehende Tolle, im Nacken extrem kurz. Mein Äußeres kann immer noch als recht gepflegt durchgehen, oder zumindest als recht gewählt. Aber ich glaube, ich fange an zu stinken. Der Schweiß dringt durch den schwarzen Uniformmantel und wird immer spürbarer. Im Moment finde ich es wichtiger zu schlafen, als mich unter den Armen zu waschen. Im Café lese ich Zeitungen, zeichne Flugzeuge auf Servietten, plane Radiosendungen, denke mir Projekte aus, recherchiere Projekte, träume von zukünftigen Jobs, träume davon – in einem Monat, wenn es mir besser geht –, vielleicht zu wagen, eine Frau nach Hause einzuladen, zu Waffeln oder Pfannkuchen oder Weißwein. Rotwein mag ich nicht, habe ihn zwar noch nie probiert, aber die rote Farbe erinnert mich an Blut, das erinnert an Ansteckung, die erinnert an Tod. Außerdem trinkt man als Synthie nicht gerne Rotwein, das würde gar nicht gut aussehen – diese Rotwein saufenden Intellektuellen sind unsere schlimmsten Feinde.

    Nach ein paar Stunden im Café habe ich genug Kraft gesammelt, um mich wieder auf die Straße hinaus zu ritualisieren. Die Türschwellen auf dem Weg hinaus zu überqueren ist leichter, als auf dem Weg hinein. Wenn man einen Ort verlässt, dann hat die Herausforderung ja bereits stattgefunden, aber wenn man ankommt, dann muss ihr erst noch begegnet werden.

    Dann reise ich weiter. Ich fahre mit der U-Bahn in die Vororte, nach Westen oder nach Osten, um dann nach Hause zurückzulaufen. Es kommt auch vor, dass ich zur Endhaltestelle laufe und die U-Bahn nach Hause nehme. Ich habe keine Fahrkarte, fahre schwarz. Ich habe auch keinen Ausweis dabei, so dass ich, wenn ich in eine Kontrolle komme, einfach einen falschen Namen und eine falsche Adresse angebe und dabei meinen Nordlandsdialekt auflege, und da neun von zehn Kontrolleuren eingewanderte Pakistani sind, verstehen sie überhaupt nichts von dem, was ich sage, geben auf und notieren meine falschen Angaben.

    Oft spaziere ich durch die allerschicksten Wohngegenden – Holmenkollen, Åsen, Smestad, Borgen. Große, schöne und schlossige Häuser. Holzhäuser. Dicke Autos, schöne Gärten, Weißwein und französisches Essen, gegrillte Rippchen und frittierte Hähnchenflügel. Ich kann in die Häuser hineinschauen, aber die Leute können mich nicht sehen. Oft sitzen da Menschen und lesen in einem Buch oder einer Zeitung, sehen fern oder nehmen eine späte Mahlzeit ein. Oft bleibe ich vor einem dieser schicken Holzhäuser auf einem Stein sitzen, hauptsächlich, um meine Beine ein wenig auszuruhen. Und ich fange an zu denken, zu träumen. Das fühlt sich gut an. Die Gedanken beruhigen sich, die guten Gedanken halten die schlechten unter Kontrolle, und ich sehe einen schmalen Streifen Licht in der Zukunft – vielleicht werde ich selbst eines Tages in einem Haus wohnen, vielleicht werde ich selbst eines Tages Auto fahren, vielleicht werde ich selbst eines Tages Weißwein trinken, vielleicht lese ich selbst eines Tages in einem

Weitere Kostenlose Bücher