Herr Tourette und ich
Uhr angerufen, deine Mutter hat um 16.00 Uhr angerufen, dein Bruder, deine kleine Schwester, deine große Schwester. Ich habe kein eigenes Telefon, deshalb rufe ich aus der Telefonzelle, die ein Stück die Straße hinunter steht, an. Ich versuche, einmal die Woche anzurufen, doch wenn es mir schlechter geht, werden es schnell einmal vierzehn Tage, manchmal ein Monat. Ich rufe immer nur für zwei Einkronenstücke an, was bedeutet, dass ich nicht länger als höchstens drei Minuten reden kann, was perfekt passt. »Ich habe nur zwei Einkronenstücke, alles ist in Ordnung, ich melde mich später, am Montag gehe ich zu einem Psychologen, die Schule ist interessant, der Job im Plattenladen ist super, tschüss dann.« Ich habe keine Zeit, in die Tiefe zu gehen, und ich versuche, so gut es geht, nicht ins Detail zu gehen. Ich besuche Psychologen, mache Termine aus und gehe hin, aber es dauert immer nur wenige Minuten, bis ich merke, dass die Person nichts versteht oder mir nicht helfen kann. Eigentlich suche ich die Psychologen nur auf, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, und wegen Mama und Papa.
Psychologische Beratungsstelle, Oslo.
Der Psychotherapeut fragt:
»So, Sie haben also ein Problem mit Türschwellen?«
»Ja …«
»Und wie sieht das aus?«
»Ich komme nicht durch die Tür, bin gezwungen, Sachen zu machen.«
»Sachen?«
»Das Bein heben, auf einen blauen Punkt schauen, gute Gedanken denken …«
»Was ist ein guter Gedanke?«
»Blauer Punkt …«
»Blauer Punkt?«
»Ja …«
»Aber was ist ein guter Gedanke?«
»Ein blauer Punkt …«
»Aber das ist kein Gedanke, das ist eine konkrete Sache.«
»Nein, das ist ein Gedanke.«
»Der Gedanke ist also der blaue Punkt?«
»Nein, ein blauer Punkt ist der Gedanke, den ich denken muss.«
»Sie müssen also daran denken, dass sie ›ein blauer Punkt‹ sagen?«
»Wenn ich eine Türschwelle überqueren soll, dann muss ich einen blauen Punkt über dem Türrahmen sehen.«
»Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie den Gedanken ›ein blauer Punkt‹ denken müssen?«
»Ich habe gesagt, dass ich einen blauen Punkt über dem Türrahmen sehen muss, um den bösen Gedanken zu vermeiden.«
»Weil es den blauen Punkt über dem Türrahmen gibt?«
»Es muss ihn dort geben.«
»Aber da gibt es doch keine blauen Punkte. Das wissen Sie doch …«
»Nein … das weiß ich nicht.«
»Aber das wissen Sie doch …«
Ich sehe den Psychotherapeuten an. Er sieht mich an, dann auf die Uhr, die strategisch günstig auf dem Tisch hinter meiner linken Schulter platziert ist. Die Zeit ist um.
»Gut«, sagt der Psychologe. »Ich finde, dass Sie heute sehr fleißig waren.«
»Finden Sie?«
»Ich finde, dass Sie heute superfleißig waren. Und Sie … vergessen Sie das jetzt mal mit den blauen Punkten. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann machen wir mit der Pubertät weiter … die dürfen wir nicht auslassen. Bis zum nächsten Mal. Sie können die fünfhundert Kronen an der Rezeption bezahlen, ehe Sie gehen«, sagt der Psychotherapeut und tätschelt mir die Schulter.
Ich komme nicht aus seiner Tür heraus. Es fängt schon damit an, dass der blaue Punkt schwer zu finden ist. Aber nach zehn Minuten finde ich ihn.
Alle wollen verstehen, aber keiner kann es. Die Psychologen wollen das Beste, denken positiv, sind nett und machen mir Komplimente. Aber sie sehen mich nicht, und ich sehe sie wahrscheinlich auch nicht. Wir geraten in eine Art unsichtbare Therapiesituation, und eigentlich hat niemand Schuld daran. Das ist wohl kein Unwille, sondern eher Unwissenheit und alte Traditionen. Diese verdammten, erstickenden Traditionen. Ich höre auf, die Psychologen aufzusuchen. Ist sowieso egal. Sie bringen nichts, ich bringe nichts, und außerdem bin ich zu hungrig, um es mir leisten zu können, noch lange von mir selbst und meinen blauen Punkten zu reden.
Die Rituale ziehen ein
Ich entscheide mich immer öfter dafür, während ich auf den nächsten Job warte, das Psychologengeld für Saft und kalte Rippchen auszugeben. Jobs gibt es jede Menge, und die meisten kann ich ein paar Wochen lang behalten. Dann höre ich auf. Ich höre auf. Anstatt rausgeschmissen zu werden, schmeiße ich mich selbst raus. Das ist weniger erniedrigend und mindestens ebenso wirkungsvoll. Inzwischen spüre ich es im Körper, wenn die Zwänge sich den monotonen Arbeitsaufgaben in den Weg stellen wollen, und ich weiß, dann ist es an der Zeit aufzuhören. Ich gehe also
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