Herr Tourette und ich
Buch. Außerdem mag ich die Stille in diesen Gegenden. Keine scharfen und unbehaglichen Geräusche, meist sanfte, gedämpfte, freundliche Töne. Manchmal sehe ich Paare, die einen Abendspaziergang unternehmen. Die Frauen tragen immer Pelz, die Männer helle Hemden und blaue Mäntel. Als wäre das eine Uniform. Das ist fast ein wenig komisch. Aber eigentlich mehr unbehaglich als komisch.
Wenn ich nach Hause komme, ist es bereits Nacht. Um zwei Uhr nachts schlafe ich ein. Ich schlafe leicht ein, der Schmerz in den Beinen ist das reinste Schlafmittel. Schwerer fällt mir, aus dem Bett aufzustehen. Ich liege faul herum, warte, höre dem Radio zu, das die ganze Zeit lang eingeschaltet war. Eigentlich wäre es schön, einfach hier zu liegen und Radio zu hören, den ganzen Tag, die ganze Woche, den restlichen Monat lang. Ich will nicht aufstehen und zwei Stunden lang ritualisieren müssen, ehe ich meinen Morgenkaffee bekomme. Wenn ich nur eine Haushaltshilfe hätte. Wenn ich eine Haushaltshilfe hätte, wäre alles so viel einfacher. Oder wenn ich wieder nach Hause ziehen würde, nach Hause ins Dorf, zum Haus und der Familie und dem schönen Wetter. Zu Hause gibt es wenigstens Flugzeuge, um die Gedanken anzuregen. Aber seit ich hierhergezogen bin, habe ich keine einzige Boeing 747 gesehen. Ich meine, die Hauptstadt könnte doch verdammt noch mal zwischen den Anfällen eine Boeing erübrigen. Zucken im Bauch, Geräusch . »Lächerliche Amateurhauptstadt.« Genau. Alles wäre so viel einfacher, wenn ich nur eine Haushaltshilfe hätte. Sie – denn das ist immer eine Sie – könnte mich sogar vor dem Frühstück verführen, so wie Gene Hackman in dem Film The Pretender . Aber ich würde ihn wahrscheinlich gar nicht in sie reinkriegen, ohne vorher zu ritualisieren – ihre Möse wäre sicher nur eine von vielen Türschwellen. Ich empfinde Ekel. Vor mir selbst. Sehe die Szene vor mir – Zucken im Bauch . »Lächerlicher Amateurschlappschwanz.« Genau. Alles wäre so viel leichter, wenn ich eine Haushaltshilfe hätte. Oder wenn ich in einem Krankenhaus liegen dürfte. Aber dafür müsste ich ja krank sein, richtig krank. Aber ich bin ja nicht krank, aber auch nicht richtig gesund, aber krank kann ich auch nicht sein – ich habe abends, wenn ich nach Hause komme, schließlich immer noch Lust auf Rippchen und Orangensaft. Das wäre bei einem kranken Menschen niemals der Fall. Also morgen. Morgen werde ich mich sicher gesünder fühlen als heute. Morgen. Also, jetzt häng mal nicht rum und jammere, du abgerissener Oberidiot, steh auf, kämpfe, laufe weiter. Denk an die Fischerboote bei Gegenwind und die Boeing im Seitenwind, also, kämpf dich durch, du nöliger, verdammter Bubi.
Wenn ich zweieinhalb Stunden später meinen Morgenkaffee trinke, fällt mir auf, dass es jetzt bald zwei Tage her ist, seit jemand mit mir gesprochen hat. Das war die Bedienung in Fräulein Olsens Café, die mich gefragt hat, ob sie mir Kaffee nachschenken solle.
Die Wanderungen werden zu einer Art Pflicht, ein Vollzeitjob, eine notwendige Medikation gegen die bösen Gedanken. Aber selbst die Wanderungen können sich leicht in Routinen verwandeln, die sich jederzeit in regelmäßige Muster und damit in Zwangsgedanken verwandeln können. Ich fange an, die Häuser, die Straßen, die Zebrastreifen, die Bürgersteige, die Bänke wiederzuerkennen. Also versuche ich, so gut ich kann zu improvisieren, neue Wege zu finden, neue Abkürzungen und Umwege. Und das funktioniert unerwartet gut. An manchen Tagen, meist am Wochenende, nehme ich die U-Bahn in völlig neue Stadtteile. Nach Osten. Im Osten gibt es hauptsächlich Lagerhäuser, Fabrikgelände und leere Parkplätze. Außerdem sind die Entfernungen zwischen den U-Bahn-Stationen länger. Ich setze mich in verschiedene Fabrikeingänge, sehe zum Himmel hinauf, sehe aber nur Wolken, keine Flugzeuge, nur eklige Dreckwolken, die über die Skyline der Stadt gleiten. Also marschiere ich weiter. Laufe, bis der Körper schweißnass ist, bis die schlimmsten Gedanken verschwinden, bis die Beine nicht mehr können. Dann mache ich eine weitere Pause – eine halbe Stunde vielleicht, oder eine ganze –, ehe ich meinen Marsch fortsetze. Ich merke, dass die Zwänge gegen acht Uhr abends am intensivsten sind, da darf ich nicht pausieren oder ausruhen, da heißt es, nonstop bis elf Uhr weiterzulaufen, bis sich die Gedanken ein wenig beruhigen.
Die Tics und die Impulse sind nicht mehr so aufdringlich wie zuvor. Das hängt
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