Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
Vom Netzwerk:
wahrscheinlich damit zusammen, dass ich nicht mehr, wie noch wenige Monate vorher, mit Menschen zusammentreffe. Mit jedem Tag isoliere ich mich mehr, aber die Isolation geschieht freiwillig als eine Methode, den Alltag zu bewältigen. Ich will nicht begafft werden, will nicht mit dem Wort »Freak« auf die Stirn tätowiert durch die Straßen gehen.

    In meinem Briefkasten finde ich eine Ansichtskarte mit dem Bild eines Zigarette rauchenden Bryan Ferry. Es ist eine dieser modernen Gratiskarten, die in trendigen Cafés auf dem Tisch liegen. Ben hat versucht, mich zu erreichen.

    »Verdammt, wo bist du, Chefsynthie? Habe nach dir gesucht, aber wahrscheinlich hast du Fräulein Aufgeknöpft in der Synthiemetropole Sheffield kennengelernt. Habe für den Rest des Jahres ein Praktikum beim Riksradio an der Westküste gekriegt. Ruf mich an. Ben.«

    Es fühlt sich gut an, wenn Ben an die Westküste zieht. Seine Gesellschaft fehlt mir, aber in der letzten Zeit habe ich aufgehört, seine Anrufe zu erwidern. Ich habe mich sogar von den Stadtteilen ferngehalten, die wir früher als unsere Synthie-Viertel betrachteten. Meine Clownrituale beschämen mich, und in Bens Gegenwart würde ich mich nur so klein, so abgedreht, so gescheitert fühlen. Doch, es ist eine Erleichterung, dass er jetzt nach Westen gefahren ist. Dann muss ich kein schlechtes Gewissen mehr haben, weil ich mich nicht bei ihm melde und weil ich vorgebe, jemand anders zu sein, als ich bin. Jetzt bin ich allein, habe niemanden mehr, den ich anrufen kann, um einen Tee oder ein Bier mit ihm zu trinken. Und das fühlt sich gut an. Allein fühlt sich gut an.

    Samstagabends versuche ich, zu Hause zu bleiben. Das liegt im Blut – Samstag ist der gemütliche Abend. Und ich versuche, ihn so gemütlich wie möglich zu gestalten. Indem ich mich passiv verhalte, vermeide ich, mich Situationen auszusetzen, in denen ich gezwungen wäre zu ritualisieren. Ich gehe nicht aufs Klo, schalte den Fernseher nicht ein oder aus, wechsele die Kleidung nicht und wasche mich nicht. Die meiste Zeit liege ich im Eisenbahnermantel auf dem Sofa und nage an einem kalten und saftigen Rippchen, das ich dann mit einem Glas Orangensaft herunterspüle. Ich höre Radio, denke nach und philosophiere. Am Montag wird alles besser, viel besser, besser als vorigen Montag, am Montag.

Ins Champagnerglas pinkeln

    Ich nehme die U-Bahn nach Smestad hinaus und beginne meine übliche Sonntagsrunde, entscheide mich dann aber überraschenderweise dafür, den Sorgnsväg zu überqueren und weiter in Richtung Blindern-West zu wandern. Dann gehe ich weiter nach Gaustad, in den Borgenväg, und lande in einer der besseren Gegenden der Stadt, den »Vorsicht, bissiger Hund«-Gegenden der wohlhabenden Oberschicht. Schöne Holzhäuser, teure und langweilige deutsche Autos, gelbe Lichter in den Gärten, das ganze Programm. In einer Gasse muss ich mich auf etwas setzen, was an eine grüne Bushaltestellenbank erinnert. Der linke Fuß fühlt sich nass an, entweder kommt es vom Regen, oder die Blase, die ich mir vor einem Monat geholt habe, blutet. In der Schuhsohle ist ein Loch. Ich dichte es mit einem Schokoladenpapier, das ich in meiner Manteltasche finde, von der Innenseite her ab. Eine Weile bleibe ich sitzen. Die Bank fühlt sich gut an, ungewöhnlich gut dafür, dass es eine öffentliche Bank ist. Nur etwa hundert Meter die Gasse hinauf ist irgendein Platz. Smestad Torg steht auf dem Schild an der Bushaltestelle. Ein Laden, eine kleine Bäckerei, eine unglaublich kleine Sparkasse.

    Ich sehe mich weiter um und massiere derweil meine Zehen. Nach meiner ununterbrochenen Wanderung fühlen sie sich steif und nass an. Und. Dann. Aus dem Nichts. Zucken im Bauch, Geräusch . Ich stehe auf, ohne daran zu denken, dass ich aufstehen werde. Lese das Schild ein drittes Mal. Es ist weiß mit schwarzen Buchstaben. Genau. Genau wie die Visitenkarte. Smestad Allé 12. Zucken im Bauch, Geräusch . Smestad Allé. Wie lang ist die wohl? Wie lang könnte sie sein? Ob sie hier wohnt? Die Frau? Die Frau in Weiß, aus dem Plattenladen? Ich hole die Visitenkarte raus, die seit vielen Monaten in der Manteltasche schlummert. Ich lese sie, einige Male. Doch, es stimmt. Sie wohnt hier. Und sie hat mich doch zu sich eingeladen. Sie hat mich eingeladen, ihre Plattensammlung durchzusehen und ihre Persönlichkeit zu lesen und ihr Sachen zu sagen. Und das ist erst ein paar Monate her. Ob sie sich an mich erinnert? Ich erinnere mich an sie – das weiße

Weitere Kostenlose Bücher