Herren des Wetens
du dir den Mrin-Kodex ansiehst – den echten, nicht eine der Abschriften. Du mußt feststellen, was verborgen ist.«
»Ich kann Ce'Nedra nicht verlassen – nicht jetzt!«
»Sie kommt schon in Ordnung. Und das ist etwas, was nur du tun kannst. Reise zu dem Schrein am Mrin und lies den Kodex. Es ist von allergrößter Wichtigkeit!«
Garion straffte die Schultern. »Na gut«, gab er nach. »Ich breche gleich morgen früh auf.«
»Noch etwas.«
»Ja?«
»Nimm das Auge mit.«
»Das Auge Aldurs?«
»Nur mit ihm wirst du sehen, was du sehen mußt.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Du wirst es, wenn du dort ankommst.«
»Na gut, Poledra.« Er verzog das Gesicht. »Ich weiß nicht, weshalb ich mich wehre, schließlich habe ich mein ganzes Leben lang Dinge getan, die ich nicht verstand.«
»Du wirst zur richtigen Zeit klarsehen«, versicherte sie ihm. Dann blickte sie ihn kopfschüttelnd an. »Garion«, sagte sie in einem Ton, der so sehr dem Tante Pols glich, daß er automatisch ein schlechtes Gewissen bekam.
»Ja?«
»Du solltest nachts wirklich nicht ohne Morgenrock herumlaufen!
Du wirst dich erkälten.«
Das Schiff, das er in Kotu heuerte, war klein, aber genau richtig für Flußreisen. Es hatte einen geringen Kielgang, war dickbauchig, und manchmal tanzte es auf den Wellen wie ein Stück Holz. Die Ruderer waren kräftige Burschen und kamen gut gegen die träge Strömung des Mrin an, der sich durch das Sumpfland schlängelte.
Bei Einbruch der Dunkelheit waren sie dreißig Meilen flußauf von Kotu, und der Kapitän vertäute vorsichtshalber das Schiff mit einer geteerten Trosse an einem abgestorbenen Baumstamm, der in Ufer-nähe aus dem Wasser ragte. »Der Fahrrinne im Dunkeln zu folgen ist zu gefährlich«, erklärte er Garion. »Nur eine falsche Biegung, und wir irren die nächsten Monate im Sumpf herum.«
»Ihr wißt, was Ihr tut, Kapitän«, sagte Garion. »Ich habe nicht vor, Euch dreinzureden.«
»Hättet Ihr Lust auf einen Krug Bier, Eure Majestät?« lud der Kapitän ihn ein.
»Keine schlechte Idee.«
Später lehnte Garion mit dem Krug in der Hand an der Reling, beobachtete die herumschwirrenden Lichter der Glühwürmchen und lauschte dem endlosen Froschkonzert. Es war eine warme Früh-lingsnacht, und die feuchte, würzige Luft aus den Sümpfen füllte seine Nase.
Er hörte ein schwaches Platschen. Ein Fisch, dachte er, oder ein Otter.
»Belgarion?« Es war eine merkwürdige, piepsige, aber deutliche Stimme. Sie kam von außerhalb der Reling.
Garion spähte in die samtige Dunkelheit.
»Belgarion?« erklang die Stimme aufs neue. Sie war etwas unterhalb von ihm.
»Ja?« fragte Garion leise.
»Ich muß dir etwas sagen.« Wieder war ein schwaches Platschen zu vernehmen und das Schiff schaukelte leicht. Die Trosse, mit der das Schiff am Baumstamm vertäut war, tauchte ein wenig unter, ein verschwommener Schatten rannte auf ihr hoch und schwang sich geschmeidig über die Reling. Der Schatten richtete sich auf, und Garion konnte deutlich hören, wie das Wasser davon herabtropfte.
Der Besucher war klein, kaum mehr als vier Fuß groß, und bewegte sich eigenartig schlurfend auf Garion zu.
»Du bist älter«, stellte der Kleine fest.
»Das ist der Lauf der Welt«, entgegnete Garion, der das Gesicht des anderen zu erkennen versuchte. Da glitt der Mond hinter einer Wolke hervor, und Garion starrte direkt in das pelzige, großäugige Gesicht eines Sumpflings. »Tupik!« rief er erstaunt. »Bist du es wirklich?«
»Du erinnerst dich an mich?« fragte das pelzige Wesen erfreut.
»Natürlich!«
Sogleich stieg die Erinnerung wieder in ihm auf, wie er bei seiner ersten Reise durch die unwirtlichen Sümpfe Drasniens mit seinen Gefährten in die Gewalt der Sumpfhexe geraten war. Nur durch einen mächtigen Zauber hatte Belgarath sie damals befreien können.
Er hatte dem Volk der Sumpflinge, die in der Hexe Vordai eine Mutter, ja fast eine Göttin sahen, die Gabe der Sprache verliehen und sie so aus dem Reich der Tiere in das der Menschen geführt. Es mochte nur eine Episode in ihren langen Abenteuern gewesen sein, aber es war ein Werk der Zauberei gewesen, das selbst Belgarath nur mit Aldurs Hilfe hatte vollbringen können, und Garion hatte sich oft gefragt, was den Gott dazu bewogen haben mochte und welche Folgen diese Tat auf lange Sicht zeitigen würde. Und was aus den kleinen Sumpflingen von damals geworden war.
Wieder schaukelte das Schiff leicht, und noch ein Schatten huschte die Trosse hoch.
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