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Herrengedeck

Herrengedeck

Titel: Herrengedeck
Autoren: Philip Tamm
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man als Mann nicht ohne Frau viel glücklicher wäre. Habe dann mit einem alten Freund telefoniert. Joachim. Der meinte, dass er sich das früher auch gefragt hätte und ihm dann ein Freund eine gute Antwort gegeben hätte: »Klar ist ein Mann ohne Frau glücklicher. Aber wenn er keine hätte, wüsste er das nicht.« Ich habe ihm daraufhin geantwortet, dass er vermutlich Recht hätte, aber dass mir das auch nicht weiterhelfe.
    Hatte am Abend dann noch zwei Dates mit Onlinekandidatinnen,
von denen mir eins vielversprechend erschien, sich aber als Reinfall herausstellte. Bei dem anderen war es umgekehrt. Ich hatte keine hohen Erwartungen und war dann positiv überrascht. Bis die Frau mir beichtete, dass sie gar nicht für sich selbst auf der Suche wäre, sondern für ihre Freundin. Als die dann dazukam, wiederholte sich die Erfahrung von Date eins: hohe Erwartung, tiefer Fall.

7. Tag: Freitag
    7:44 Uhr: Habe gerade geschätzte zwanzig Gramm abgenommen! Wow, bin stolz auf mich. Wie ich das geschafft habe? Ganz einfach, ich habe mich rasiert.
    Damit meine ich nicht, dass ich mir mit meinem NASAGEPRÜFTEN, fünfklingigen High-Tech-Turbo-Gillette-Nassrasierer die allmorgendlichen Stoppeln von den Wangen gekratzt habe, um eben nicht auszusehen wie ein schiffbrüchiger Pirat. Nein, ich rede davon, dass ich mir meine Kevin-Kurányi-mäßige Kinnfrisur entfernt habe, und zwar radikal und unwiderruflich. Ab sofort gehe ich wieder mit nacktem Kinn durch die Welt!
    Das will wirklich etwas heißen, denn wenn ich richtig rechne, trage ich seit genau zweiundzwanzig Jahren so etwas wie einen Bart, also seit ich fünfzehn Jahre alt bin. Okay, damals war es eher ein zarter Flaum über meiner Oberlippe, den man zunächst nur bei Sonnenschein und mit Vergrößerungsglas erkennen konnte. Aber das war egal, denn auch diese paar Härchen erfüllten damals ihren Zweck: Sie beendeten meine Kindheit und machten mich zum MANN!
    Damals mit fünfzehn war das überlebenswichtig. Ich wuchs in einer Nachbarschaft auf, in der wir uns auf dem
Schulhof mit dem Klappmesser begrüßten, unsere Mofas mit dem Leben verteidigten (jedenfalls die, die eins hatten), und unser Taschengeld möglichst schnell verprassten, bevor es uns einer der älteren Jungs als zinslosen und nicht rückzahlbaren Kredit abnahm.
    In einem solchen Klima ist ein angehendes Bärtchen dasselbe, was für einen Indianerjungen seine erste Medizin ist, für einen US-Teenager die erste halbautomatische Waffe oder für einen russischen Jugendlichen die erste klinische Ausnüchterung. Einen Bart zu haben hieß, dass ich mit den wichtigen Jungs am Spielplatz-Verschlag stehen und rauchen durfte, dass ich eine Freundin haben und jedem auf die Fresse hauen durfte, der sie mir abspenstig zu machen versuchte. Und ich bekam einen Spitznamen, was bedeutete, dass ich ab sofort vollwertiges Mitglied der Clique war. Kurz gesagt: Ein Bart war die Lizenz zum Cool-Sein.
    Besonders das mit der Freundin war wichtig. Denn wer ein Bärtchen hatte - und sei es nur das Oberlippending, das ich vorweisen konnte, dem traute man auch Sex zu. Und zwar ganz egal, ob man ihn wirklich hatte oder nicht.
    In Wahrheit war es bei mir erst ein Jahr später so weit, mit sechzehn. Sie hieß Renate, und wir machten es in einer seltsam verrenkten Position auf einer Kneipentoilette. Nach dem eigentlich Akt, der so schnell ging, dass ich Renates Stöhnen mit einem einzigen Spülvorgang übertönen konnte, sah sie mich stirnrunzelnd an und sagte: »Ich glaube, du siehst älter aus als du bist. Aber ich mag dich.«
    Seitdem weiß ich, dass Mädchen oder Frauen auf Männer mit Bart stehen.
    Tja, und jetzt habe ich es getan, ich habe mich rasiert, und
zwar komplett. Ich kann es selbst kaum glauben. Ich blicke in den Spiegel und sehe nichts als Haut. Keine Haare, weder in den Ohren noch in der Nase noch rund um den Mund oder an den Wangen. Alles weg.
    Und das ist auch gut so. Bin nämlich nicht mehr derselbe wie früher. Denn ganz egal, ob Katja zu mir zurückkehrt oder nicht, es wird nicht mehr so sein wie früher. Und das habe ich jetzt mit Hilfe des Gillette ein für alle Mal deutlich gemacht.
     
    Tagsüber: Keine besonderen Vorkommnisse. Mittagspause mit Birgit, die von meinem neuen Look total begeistert ist (»Jetzt weiß ich endlich, wie du aussiehst«). Ich versuche, unsere Konversation ganz dezent auf private Themen zu lenken, zum Beispiel Vorlieben beim Sex, Seitensprünge, Häufigkeit der Orgasmen bei Mann und Frau.
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