Herrentier
Nichts klatschten sie gegen seine Wangen. Gregor hetzte weiter durchs Dickicht. Als säße er im Zug, so huschten Bäume und Sträucher an ihm vorbei. Nach und nach lichtete sich zu seiner Linken das Gestrüpp und er erblickte hinter mannshohem Stacheldraht ein Haus. Er kannte es, auch die Wachen davor, die das Gebäude vielfüßig umstellten. Plötzlich zuckte Gregor zusammen. Unmittelbar vor ihm war eine Gestalt aufgetaucht. Wie ein gewaltiger Schatten versperrte sie ihm den Weg. Im Lauf zog er einen Ast vor sich, um den anderen zu irritieren und gleichsam Halt zu suchen. Doch beim Versuch auszuweichen, verhakte sich sein Schuh am Zaun, er stolperte, fiel und landete überraschend sanft. Grashalme kitzelten im Gesicht wie freche Fliegen. Jemand Vertrautes sprach:
»Iiieeh, Papi, du hast Haare in der Nase.«
»Gib mir jetzt den Kamm!«, sagte eine andere, ihm ebenso nahestehende Stimme.
»Nein, ich hab den geholt, dann kann ich Papi auch kämmen.«
Gregor schreckte hoch. Der Anblick seiner Töchter, die im Nachthemd vor ihm standen, ließ seinen Kopf sogleich wieder ins Kissen fallen. Während er bemerkte, dass er sich nicht auf dem Gelände des Zoos befand, schloss er wieder die Augen und flehte stumm, die Kinder sollten ihn noch ein paar Minuten ruhen lassen. Sinnlos, die Kleine legte ihr Kinn auf seine Schulter und ahmte abwechselnd Schnarch- und Pfeifgeräusche nach. Benommen richtete er sich auf.
»Na, ihr zwei. Was macht ihr denn schon hier? Müsstet ihr nicht noch schlafen?«, fragte er gähnend.
»Uti will mir den Kamm nicht geben.«
Es war keine Antwort auf eine seiner beiden Fragen, das überraschte ihn aber auch nicht. Erst jetzt bemerkte er das gute Dutzend Spangen in Juttas Haaren. Beide Mädchen hatten sich die Münder großzügig mit Lippenstift bemalt. Ohne ihr Aussehen zu kommentieren, versuchte Gregor das Zifferblatt des Weckers zu erkennen, der wenige Meter vor ihm auf der Kommode stand. Ohne Kontaktlinsen fiel ihm das schwer, doch der senkrechte Strich, den kleiner und großer Zeiger gemeinsam bildeten, ließ keine Zweifel zu: Sechs Uhr! Er stöhnte auf.
Nach seinem späten Ausflug hatte er lange nicht einschlafen können. Seine Gedanken waren unentwegt um die grässlichen Fotos gekreist, während er sich von der einen auf die andere Seite gewälzt hatte. So viele Fragen: Was war die Absicht des Affenmörders? Warum schickte er Journalisten in die Nacht, für etwas, das er anonym doch genauso gut selbst veröffentlichen konnte? Bei dem Mann im Gehölz hatte es sich um den Täter gehandelt, daran zweifelte Gregor nicht. Wer sonst hätte sich dort nachts aufhalten sollen? Diesem Perversen genügte offenbar das Verbrechen allein nicht. Nein, er wollte auch noch sehen, was es bei anderen auslöste.
All das hatte Gregor keine Ruhe gelassen. Und was sollte er nun mit dem Material machen? Es auf eigene Faust abdrucken, online stellen? Eine in ihrer eigenen Behausung niedergeschlagene Affenmutter mit zertrümmertem Schädel, umgeben von Blut und Gummibärchen? Das wäre gegen jedes professionelle Verantwortungsgefühl. Auch wenn davon in der Branche nicht mehr viel übrig geblieben war: Zur weiteren Verrohung der journalistischen Sitten wollte er nicht auch noch einen Beitrag leisten. Er könnte alles der Polizei aushändigen, doch das wäre verfrüht. Einen Informationsvorsprung musste man als Journalist nutzen, sonst hätte man den Job verfehlt. Die Nacht war schwül, ein Gewitter lag in der Luft und als Lesen auch nicht half, war er gegen ein Uhr aufgestanden, um zu arbeiten. Der niemals versiegende Strom beruflicher E-Mails, der ihn beständig auffraß, legte zumindest zu dieser Zeit des Tages mal eine Pause ein. Seine Hoffnung war, sich ablenken zu können. Als er merkte, dass ihm sein Werk gut von der Hand ging, spürte er eine gewisse Befriedigung, die er im alltäglichen Stress oft vermisste. Aufgaben, die er immer vor sich hergeschoben hatte, hakte er ab wie Produkte auf einem Einkaufszettel. Um 3.50 Uhr hatte er es tatsächlich geschafft, sein Posteingang war leer. Er hatte sich zurückgelehnt, um den Augenblick eine Weile zu genießen, ehe er erneut zu Bett ging.
»Papi, wieso hast du diiiee da?« Jutta zeigte mit ihrem Fingerchen auf seine Nase und schaute ihren Vater an, als hätte er großflächigen Ausschlag, teils interessiert, teils angeekelt.
»Oh, äh, bestimmt weil …«, er stockte. Uta und Jutta sahen ihn erwartungsvoll an, da nun sicherlich eine seiner Geschichten
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