Herrentier
folgen würde. Vielleicht die, wie ihr Papi an einem Wintermorgen einen Elch mit einem fürchterlich juckenden Rücken traf, den er dann ordentlich kratzte, woraufhin der Geweihträger ihm als Dank ein paar von seinen Glück bringenden Polarhaaren in die Nase zauberte. Statt eines Märchens folgte zwar nur ein erneutes Gähnen, aber die Enttäuschung der Töchter währte nicht lange.
»Charlie hat auch Haare in der Nase«, meinte Uta und hielt ihr Kuscheltier, einen Schimpansen, an einem Fuß nach oben, während ihre Schwester bereits zu ihrer Mama schlich, die sich noch unverdrossen schlafend stellte.
Nach einer kalten Dusche und dem Wahnsinn, den junge Eltern allmorgendlich erleben dürfen, öffnete Gregor die Schreibtischschublade. Er entnahm seine Beute der vergangenen Nacht und legte sie sorgsam neben den Laptop. Seine Zeigefinger pochten nervös auf den Computer. Sieben Uhr. Er musste die Zoodirektorin sprechen, noch ehe die Redaktionssitzung begann. Wenn die RAZ nicht bis Mittag reagierte und etwas online stellte, würde der Unbekannte die Fotos Bernd oder womöglich einem privaten Blogger anbieten, die keine Skrupel hätten, die Niedertracht zu bebildern.
Das Freizeichen ertönte, doch niemand nahm ab. Ein erneuter Versuch blieb ebenfalls erfolglos.
Gregor fluchte, seine Finger umspielten eine Haarsträhne, während er sein Notizbuch aufschlug. In den Aufzeichnungen von der Pressekonferenz musste noch die Visitenkarte der Assistentin stecken. Da war sie. Jeanette Albrecht. Bachelor of Arts, Master of Business Administration. Gregor runzelte die Stirn. Er vermisste die Zeit, in der man anhand der Berufsbezeichnung verstanden hatte, was jemand konnte bzw. tat. Er wog den mit dem Logo des Zoos bedruckten Karton in der Hand. In welcher Situation würde er jetzt stören, wenn er anrief? Der Gedanke, sie nur mit einem Tuch umwickelt aus dem Bad zu holen, ließ sein Herz höher schlagen. Er verkniff sich alle weiteren Fantasien. Er tippte, 0196 / 06336969. Als der Wählton erklang, sprang Gregor auf. Er hatte mal gelesen, dass es dynamischer wirkte, wenn man sich beim Telefonieren im Zimmer die Füße vertrat. Und genau so wollte er jetzt sein: dynamisch, maskulin, unwiderstehlich. Seinem Gegenüber sollten die Knie weich werden.
»Albrecht?«
Oh Gott, sie klang, als könnte sie mit kaum mehr bekleidet sein als einem Morgenmantel.
»Ja, Simon am Apparat«, Gregor biss sich auf die Unterlippe. Das war jetzt hoffentlich nicht zweideutig zu verstehen. »Ich muss Sie oder Frau Hammer unbedingt treffen, am besten sofort, also innerhalb der kommenden zwei Stunden.«
»Nun, es ist früh am Morgen, ich bin noch nicht mal angezogen.« Gregor machte ein Gesicht, als müsste er einen Schmerz unterdrücken. »Also, Frau Hammer ist heute Vormittag definitiv nicht zu erreichen, da müssten Sie schon mit mir vorlieb nehmen, wenn es so dringend ist. Allerdings …«, sie machte eine Pause, »… die einzige Chance ist, dass wir zusammen joggen gehen. Ich wollte in den nächsten Minuten loslaufen, da hätten wir eine ganze Stunde Zeit.«
»Jetzt joggen?«, fragte er ungläubig, als könnte es sich nur um ein Missverständnis handeln. »Eine Stunde?« Er versuchte seine Sorge zu überspielen. »Warum nicht.«
Zwanzig Minuten später stand er in notdürftig zusammengestellter Sportkluft im Stadthafen vor der STEPHAN JANTZEN. In kurzen Hosen vor der mächtigen schwarzen Bordwand des Eisbrechers wartend, fühlte er sich wie ein hilfloser Schüler an der Tafel. Wohin mit Armen und Beinen? Er überlegte, wie er wohl am besten dastünde. Sollte er sich dehnen, oder hüpfend den Kopf kreisen lassen wie diese muskelbepackten Sprinter kurz vor dem 100-Meter-Finale? Nackter als in dieser Montur hatte er sich lange nicht gefühlt.
Und da kam sie angelaufen, wie frisch aus einer Adidas- Kampagne geschlüpft. Gregor verfluchte diesen Tag schon jetzt, er fröstelte, im Juni.
»Ich habe das Gefühl, in diesem Jahr hört der April niemals auf«, begrüßte er sie.
Jeanette musterte ihn. Etwas Spöttisches umspielte ihren Mund. »Genau wie es der Hundertjährige Kalender vorausgesagt hatte, ist dieser Sommer viel zu kühl, dafür gibt es einen goldenen Herbst.«
»Der hundertjährige Kalender? Ich habe nie verstanden, was das eigentlich ist. Klingt für mich, als hätte ihn irgend so ein Nostradamus der Meteorologie verfasst«, erwiderte Gregor.
Jeanette schmunzelte. »Um genau zu sein, war es ein Dr. Knauer aus Oberfranken.
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