Herrentier
Frühstückstisch saß.
»So etwas Ähnliches wie jedes Mal«, antwortete er und rührte in seinem Müsli. »Egon, der Falke, hat sich an der defekten Voliere verletzt, kurz vor Feierabend. Ich habe schon so oft zu den Technikern gesagt, sie sollen das verdammte Drahtknäuel oben am Käfigdach abschneiden. Das hängt da seit der letzten Renovierung, und jetzt hat sich Egon schon wieder darin verfangen. Ich musste direkt zum Tierarzt. Es war eine komplizierte Operation, und ich bin zur Überwachung sicherheitshalber im Zoo geblieben. Handy war leider alle, Ladekabel zu Hause. Und das stimmt sogar.«
»Raffiniert«, sagte Evelyn. Sie kannte Roberto seit seiner Lehre im Zoo, das waren jetzt schon mehr als zwanzig Jahre. Er war ihr damals sofort aufgefallen. Ein kluger Junge, vielleicht ein bisschen zu klug für das Ausmisten von Ställen. Mittlerweile war er zum Chef-Vogelpfleger aufgestiegen. Außerdem war Roberto Erfinder von Uhu Aha , dem Maskottchen einer Art lehrreicher Schnitzeljagd für Kinder. Das Spiel bestand darin, nach einem vorgefertigten Plan durch den Zoo zu laufen und Fragen zu beantworten. Wenn sich die Teilnehmer auf ihrem Weg begegneten, sah das Reglement vor, dass sie sich die Frage »Hast du auch einen Vogel?« an den Kopf warfen. Das verselbständigte sich regelmäßig, und die Frage wurde hundertfach auch denjenigen gestellt, die als unbescholtene Zoobesucher gar nicht am Spiel beteiligt waren.
Die meisten Kindergruppen hielten das stundenlang durch, rannten schreiend durch den Zoo, während ihre Eltern sich entnervt über die Alkoholvorräte der Elefanten-Lodge hermachten. Am Ende bekamen die Kinder jeweils einen Uhu Aha in Plüsch überreicht, und alle zogen zufrieden ab. Es hätte immer so weitergehen sollen, dachte Evelyn wehmütig. Vorerst war an ausgelassene Kinderhorden aber nicht mehr zu denken.
»Und was sagst du deinem Mann?«, fragte Roberto.
Evelyn schreckte aus ihren Gedanken hoch.
»Pinguin Roberto hat sich die Flosse verletzt, und ich habe die ganze Nacht damit verbracht, ihm Schwimmflügelchen umzubinden, sodass er beim Tauchen nicht absäuft«, sagte Evelyn. »Gar nichts werde ich ihm erzählen, wie immer. Mein Mann ist in Leipzig und hat genug mit seiner Station am Klinikum, mit den Vorlesungen und den Studenten zu tun. Wer weiß, vielleicht auch mit Studentinnen. Jedenfalls ist er nicht da, wenn ich ihn brauche. Und deshalb muss ich ihm keine Fragen beantworten.«
»Warum trennt ihr euch nicht?«
Evelyn dachte an Holger. Die Beziehung funktionierte. Aus der Ferne. Ab und zu trafen sie sich in Leipzig, Berlin oder Rostock. Als sie zusammenkamen, hatte ihnen niemand mehr als ein paar Wochen gegeben, damals in den Achtzigern. Er, der feingliedrige Mediziner, der angehende Handchirurg. Sie, die robuste Tierpflegerin. »Professor Finger und die Frau im Zwinger« wurden sie genannt. Aber diejenigen, die sich damals lustig gemacht hatten, waren jetzt selbst getrennt und geschieden. Oder sie saßen im »goldenen Käfig«.
»Wir lassen uns unsere Freiheiten.« Evelyn biss in ihr Hackepeterbrötchen.
Als Holger die Professur in Leipzig angeboten wurde, war für beide selbstverständlich, dass er den Ruf annehmen, sie aber in Rostock bleiben würde.
»Ich habe nie mit dem Gedanken gespielt, eine Affäre zu beginnen. Erst durch dich bin ich zur untreuen Ehefrau geworden, du loser Vogel.«
Roberto hob abwehrend die Arme.
»Und heute Nacht? Gab es einen besonderen Anlass, unsere Gelegenheitsbeziehung wieder aufleben zu lassen?«
»Wie meinst du das?« Evelyn schob misstrauisch die Brauen zusammen.
»Dass du nicht bittest, sondern mich eher zu dir befiehlst, daran hab ich mich ja schon gewöhnt. Aber gestern klang es anders. Das hörte sich nicht wie ein forderndes Balzen an. Eher wie ein … Hilferuf.«
»War es aber nicht«, log Evelyn.
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Sie stand ruckartig auf und trank den letzten Schluck Kaffee im Stehen. »Wir müssen los. Jetzt.«
Roberto aß hastig noch zwei Löffel und schob die halbvolle Schüssel von sich.
»Fahren wir zusammen?«
»Ich setz dich am Saarplatz ab. Das letzte Stück musst du mit der Straßenbahn fahren. Zu dem Gerede über die Affen muss ja nicht noch Geschwätz über uns kommen.«
»Du bist die Chefin.«
Als Evelyn Hammer das Vorzimmer ihres Büros betrat, wartete dort bereits Jeanette Albrecht, einen Stapel Zeitungen im Arm.
»Ich habe dir eine kleine Presseschau vorbereitet.«
Die Zoochefin ließ sich
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