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Herrentier

Herrentier

Titel: Herrentier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Joseph
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hatte, um ihre Fantasie anzuregen. Würden diese Anekdoten auf drei Familienfesten wiederholt, so würden sie womöglich ewig als eigene Erlebnisse in den Köpfen von Uta und Jutta bleiben. Charlie lächelte ins Leere. Gregor nahm ihn in die Hand und zog dem Plüschaffen gedankenverloren die Sachen gerade. Irgendjemand musste ihm helfen, die Hintergründe besser zu verstehen. Sein Blick schweifte durch den Raum, er stand auf und nahm noch einmal Placebos Schallplatte in die Hand. Er las  Ask for answers  und  Scared of girls  auf der Titelliste. Wie passend, dachte er, erschrocken von den Girls bin ich auch. Seine Finger glitten über die Tastatur seines Handys und suchten Jeanettes Nummer.

Schuld

    Die frische Luft, die durch das Badfenster hereinströmte, konnte den sauren Geruch des Erbrochenen auch nach gut einer halben Stunde nicht vertreiben. Ebenso wenig ließ Zähneputzen den Geschmack im Mund verschwinden. Evelyn stützte sich mit beiden Armen auf den Rand des Waschbeckens und musterte ihr Spiegelbild, müde und desillusioniert wie eine Operndiva am Ende einer langen Karriere. Sie streifte ihr Kopftuch ab und fuhr sich durch die Stoppelhaare. Da saß sie, die verdiente Zoodirektorin, die durchsetzungsstarke Selfmade-Frau, die sowohl auf dem Parkett mit Ministern und Senatoren als auch im Stall mit Elefantenkühen eine gute Figur abgab. Evelyn, die leidenschaftliche Liebhaberin, die es ungeachtet ihres fortgeschrittenen Alters geschafft hatte, einen attraktiven jungen Mann nahezu hörig zu machen. Sie zog eine Grimasse, mit der sich ihr Gesicht in Falten legte. Dann ließ sie ihre Züge wieder erschlaffen. Wie ein Kind, das sein eigenes Ich im Spiegel entdeckt. Mühsam nur zog sich die Haut in ihre Ausgangsposition zurück und ließ um die Augen und über dem Mund feine Maserungen als Erinnerung zurück. Minutenlang besah sie sich so. Was war ihr geblieben, fragte sie sich, bittere Galle ins Becken spuckend. Sie hatte gedacht, der Alptraum wäre mit dem Tod von Henning Schwarck vorbei, doch offenbar war er das nicht. Gleichgültig, ob sich jemand mit ihr einen schlechten Scherz erlaubte oder ob es ernst war, die Botschaft des jüngsten Briefes hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Anfänglich war es ihr, als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen. Ihre Beine waren plötzlich weich geworden, sie hatte sich mehrmals hintereinander übergeben, ihr Innerstes ausgespien und die Kanalisation hinuntergespült. Entsprechend leer fühlte sie sich jetzt. Wo war ihre Jugend, wo das erfüllte Leben? Hatte sie etwa kein Recht auf Glück? Nicht die Briefe und auch nicht der Mord im Affenhaus waren es, die ihr alle Illusionen nahmen. Das wusste sie. Diese Dinge zeigten ihr nur, wie wenig sie eigentlich besaß. Holger und sie hatten für ihre Karrieren hohe Preise gezahlt. Ihre Kinderlosigkeit hatte eine Lücke gerissen, die über die Jahre zum Graben geworden war. Was half es, da eine Schaufel beruflichen Erfolgs hineinzuschippen? Als sie beide das verstanden hatten, war es zu spät gewesen. Sie hatten sich voneinander entfernt, nicht nur räumlich, sondern auch emotional. Jeder errang ein wenig Ruhm, er in seiner Klinik, sie in ihrem Zoo. Jeder für sich, zumindest das verband sie. Als Holger ihr das Leben rettete, weil er einmal zur Stelle war, als sie ihn brauchte, da war ihr gemeinsames Leben längst vorbei, ihre Ehe ohne Bedeutung geworden. Ohne Sinn. Ein Tattoo aus der Jugend, das, unter Kleidung versteckt, die Zeit überdauerte. Nicht mehr. Merkwürdigerweise hatte Evelyn diese Erkenntnis mit dem Kopf über der Kloschüssel ereilt, was schmerzhaft, aber auch erleichternd war. Sie konnte Holger nicht mehr verlieren, wenn sie ihm von Roberto berichtete. Er gehörte ihr nicht mehr. Hätte ihr Mann ein klein wenig davon verstanden, wie sie fühlte, hätte er es nicht zugelassen, dass fremde Menschen sich durch ihre Unterwäsche schnüffelten. Wahrscheinlich hatte er noch eine Putzfrau kommen lassen, die die behördliche Wühlerei wieder aufgeräumt hatte.
    Sie hielt ihr Kopftuch in den Händen, befühlte die Seide, ließ das zarte Material durch ihre Finger gleiten. Und Roberto? – Sie hatte ihn nur benutzt. Mit einer flinken Bewegung formte sie einen Knoten in das Tuch und zog ihn an beiden Enden fest. Als sie ihren Liebhaber nicht mehr brauchte, hatte sie ihn weggeschickt, ohne sich darum zu scheren, wie er damit zurechtkommen würde. Das Schuldgefühl würde bleiben, überdauern wie das Fundament eines Hauses.

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