Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
Vom Netzwerk:
Gefährte, Geliebter, Ehemann – und in gerade mal zwei Monaten der Vater ihres gemeinsamen Kindes! Was sollte nur aus ihr werden? Was sollte nur aus allem werden?

SECHSTES KAPITEL
    »Könntest du dich vielleicht etwas beeilen?«, trieb Seppi Henne an, als sie Daniel in den Fichtensarg legten, den der alte Gundler vor einigen Jahren für sich selbst gezimmert hatte. »Du weißt doch, wie eilig sie es mit der Beerdigung haben.«
    In der Tat sollte die Beisetzung bereits am folgenden Tag stattfinden. Die ›bessere‹ Gesellschaft und die staatlichen Autoritäten befürchteten nämlich, dass es wegen Daniels Tod zu einem Volksaufstand kommen könnte. Nach der Anzahl der Leute zu schließen, die sich bereits von ihm verabschiedet hatten, und jenen, die vor der Tür Schlange standen, um das noch zu tun, war ein Aufruhr der ›kleinern Leute‹ durchaus möglich. Sie verehrten Daniel wie einen Volkshelden, hatte er doch mit seinen Kumpanen stets versucht, ihre Not ein wenig zu lindern, und dabei nicht nur sein Leben aufs Spiel gesetzt, sondern es nun in ihren Augen völlig unverdient verloren. Solche Gesetze wie das gegen Wilderei wurden sowieso von denen ›da oben‹ nur gemacht, weil sie keine Ahnung von den herrschenden Zuständen hatten und sie obendrein die Natur und deren Geschöpfe als ihr Eigentum betrachteten. Seltsamerweise fragte nämlich keiner der Amtspersonen jemals einen der ›Großkopfeten‹, woher diese sich das Recht für einen Abschuss nahmen, außer dass sie dafür mit Geld bezahlt hatten. Und das wiederum hatten sie nur den einfachen Leuten abgepresst. Ja, manchmal brauchten sie noch nicht einmal Geld dafür, es reichte, wenn sie innerhalb der ›feinen‹ Gesellschaft ihre Beziehungen spielen ließen.
    Anna stand wortlos und unfähig, eine weitere Träne zu vergießen, in der Ecke der Stube und beobachtete, wie Henne den Deckel auf den Sarg setzte und mit lauten Hammerschlägen den Leichnam für alle Ewigkeit vor den Lebenden verbarg. Dann trugen die beiden Männer ihre schwere Last nach draußen in die eisige Kälte. Sie hievten den schmucklosen Fichtensarg auf den Hörnerschlitten und banden ihn mit mehreren Seilen fest, damit er beim Transport hinab ins Dorf nicht verrutschen konnte.
    Es versprach ein schöner Wintertag zu werden. Anna konnte den Atem der beiden sehen, der sich deutlich gegen die tief stehende Morgensonne abzeichnete, die inzwischen den Bergsattel des Imberger Horns hinter sich gelassen hatte. Dieser Atem, dachte Anna, als ob man sehen könnte, wie die Seele den Körper verlässt. Und sie fand es angemessen, dass die Natur an diesem Morgen mit einfachen Mitteln deutlich machte, dass nicht nur sie heute ein Stück ihrer Seele verloren geben musste. Henne und Seppi setzten sich vorne auf den Schlitten, Anna nahm mit den beiden Frauen hinten auf einem Querbrett Platz, sodass sie mit dem Rücken zum Sarg saßen. Und jetzt ging es die tief verschneiten Hänge über Riedle hi nunter nach Sonthofen.
    Unwillkürlich musste Anna an ihre letzte Schlittenfahrt denken. Etwas mehr als zwei Wochen war es her, seit sie sich am Heiligen Abend zur Christmette nach Tiefenbach aufgemacht hatten. An dem Tag hatte Daniel mehrere zusätzliche Bretter festnageln müssen, damit alle Platz fanden. Singend und manchmal auch mit lautem Gebrüll, wenn es etwas zu schnell in eine Kurve ging oder der Schlitten einen ›Luftsprung‹ machte, war es talwärts gegangen, heiter, ausgelassen, fast übermütig. Heute sah die Welt ganz anders aus. Eine bedrückende Stille begleitete sie die gesamte Fahrt über, selbst der sonst dunkelgrüne Wald hatte an diesem Morgen ein tiefschwarzes Gewand angelegt. In der absoluten Windstille war vom durch den weichen Schnee fahrenden Schlitten nur ab und zu ein Geräusch zu hören. Sie schienen eher zu schweben, als zu gleiten, dachte Anna, und die ganze Welt wirkte wie entrückt und in Watte gepackt, so unwirklich wie ein Traum, so beklemmend wie ein Albtraum – trotz des strahlend blauen Himmels und der weißen Pracht um sie herum.
    Unterhalb der Burg Fluhenstein wurden sie bereits erwartet. Immer mehr Menschen schlossen sich dem Trauerzug an. Fast hätte man meinen können, da würde ein berühmter Mann zu Grabe getragen, so viele Menschen waren auf den Beinen, und später in der Kirche war bei weitem nicht für alle Platz. Erst nach der Predigt war draußen auf dem Friedhof die komplette Trauergemeinde wieder versammelt. Aber es war nicht nur eine Trauergemeinde, wie

Weitere Kostenlose Bücher