Herrgottswinkel
bekommst du ein böses Weib als Schwiegermutter, wenn du den Daniel heiratest«, hatte Annas Vater gleich beim ersten Mal festgestellt, als er sie getroffen hatte.
»Ich will ja nicht die Mutter heiraten, sondern den Daniel«, hatte Anna lachend und schlagfertig geantwortet.
Doch nun gab es keinen Daniel mehr, der sie hätte beschützen können.
»Redet ihr über mich?«, fragte sie die drei vor sich.
»Wie kommst du denn darauf?« Burgel drehte sich beim Gehen kurz um und verzog abfällig das Gesicht.
»Lauf lieber etwas schneller und kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen«, meinte die alte Gundlerin, wobei sie es nicht einmal für nötig befand, Anna anzusehen.
Anna konnte kaum noch Schritt halten, sie bekam einfach keine Luft mehr. Auch durfte sie dem Kind in ihrem Bauch nicht zu viel zumuten. Und so wurde der Abstand zu den drei ›Krähen‹ vor ihr, wie sie sie bei sich nannte, immer größer. Einsam und schutzlos, wie sie sich inzwischen fühlte, und aus Angst vor der Zukunft rollten die Tränen fast ohne Unterbrechung über ihre Wangen, die inzwischen wegen der Kälte die Farbe sonnengereifter Äpfel angenommen hatten. In gut zwei Monaten sollte ihr Kind zur Welt kommen – was sollte dann nur werden?
Verzweifelt hing sie weiter ihren trüben Gedanken nach und nahm gar nicht wahr, dass sie bereits den Steig bei Sonthofen hinter sich gebracht hatte. Erst als sie dumpfe Schritte im Schnee und keuchendes Atmen und ein »Anna, so warte doch!« hörte, drehte sie sich abrupt um und sah Henne hinter sich, wie er allein den schweren Hörnerschlitten den Abhang hochzog. Sein Gesicht war fast purpurn, der Filzhut fiel ihm weit in den Nacken und seine kohlrabenschwarzen Haare hingen ihm wirr und feucht in die Stirn.
»Hilft dir denn keiner mit der schweren Last?«, wollte sie wissen und die Erinnerung an den heutigen Morgen stieg beim Anblick des Schlittens wieder in ihr hoch, sodass sie die Verzweiflung von Neuem übermannte. Henne schien ihre Gefühle bemerkt zu haben, denn bevor sie sich’s versah, nahm er sie unbeholfen in den Arm, und an seiner Schulter schluchzte sie ihr ganzes Leid und ihre Traurigkeit heraus. Auch Henne konnte sich nun nicht mehr halten und so lagen sie sich eine ganze Weile in den Armen und weinten. Weder der tiefblaue Himmel noch die vom Schnee gleißenden Gipfel um sie herum scherten sich auch nur im Entferntesten um ihren Schmerz und ihren Verlust. Inmitten dieser teilnahmslosen und über alles erhabenen Schönheit waren sie nur zwei kleine schwarze Punkte, für die die Zeit einen Augenblick lang stehen geblieben war.
Schließlich löste sich Anna aus der Umarmung und trocknete sich mit ihrem Kopftuch das nasse Gesicht. Henne und sie fassten die großen schwarzen Schlaufen, die unterhalb der Griffe befestigt waren, und – nach anfänglichem Protest von Henne – zogen sie gemeinsam den Schlitten weiter nach Tiefenbach.
»Und wie soll es nun weitergehen?«, fragte er in die dumpfe Stille hinein, die nur manchmal vom Knistern der beiden Kufen auf der schneebedeckten Straße unterbrochen wurde.
»Wie soll es schon weitergehen!«, erwiderte Anna verzweifelt, denn beim Gedanken an die Zukunft tat sich vor ihr stets ein tiefschwarzer Abgrund auf.
Inzwischen waren sie am elterlichen Hof von Henne angelangt. »Ich bringe euch morgen den Schlitten wieder hinauf«, meinte Henne, »aber wenn du willst, könnte ich dich noch ein Stück begleiten.«
Doch Anna lehnte dankend ab. Sie wollte ein wenig alleine sein, um ihre Gedanken ordnen zu können.
»Du weißt, wenn du vor Kummer nicht mehr weiterkannst und einfach einmal jemanden zum Reden brauchst, ich bin immer für dich da. Das wollte ich dir noch sagen, schließlich war der Daniel mein bester Freund«, versprach er ihr mit brüchiger Stimme. Dann wischte er sich die Tränen aus den Augen und wandte seinen Blick ab. Niemand sollte ihn so sehen.
»Ich weiß, und dafür danke ich dir«, erwiderte Anna, die selbst den Tränen wieder gefährlich nahe war. Dann drehte sie sich langsam um und machte sich auf den Weg in Richtung der nächsten Anhöhe, auf die Breite zu, wo sie von nun an alleine bei ihren Schwiegerleuten leben sollte.
Als sie oben ankam, dämmerte es schon, im Stall jedoch brannte kein Licht. Also ging Anna schleppenden Schrittes vor das Haus. Sie war vom beschwerlichen Aufstieg ziemlich außer Atem, denn das Kind unter ihrem Herzen war ja nicht mehr so klein. Als sie die kalte Türklinke herunterdrückte,
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