Herrgottswinkel
viel wichtiger als ich? Waren denn deine Schwüre nicht ernst gemeint?«
Dann faltete sie seine Hände und legte einen Rosenkranz hinein. Zum Schluss kämmte sie ihm noch das zerzauste, dunkle Haar und küsste ihn zum letzten Abschied auf den Mund. Als sie sich dabei über ihn beugte, fiel ihr Blick auf die neue Halskette mit den Granen, Daniels Geschenk. Und da ahnte sie plötzlich den Grund für Daniels Wortbruch: Konnte es sein, dass er nur für sie wieder zum Wilderer geworden war? Dass er, nur um dem Goldschmied die letzte Rate für dieses teure Geschenk bezahlen zu können, klammheimlich aus dem Haus geschlichen war? Wie gerne hätte sie auf das Geschenk verzichtet, jetzt, als sie ihn so vor sich liegen sah! Weinend entfernte sie die Blutreste vom Boden und trug die Wasserschüssel zur Stube hinaus. Dann stellte sie im Raum Kerzen auf und räumte die alte Kleidung weg.
Seppi saß wie versteinert auf der Ofenbank und starrte mit leerem Blick zu seinem toten Bruder auf dem Tisch. Anna setzte sich neben ihn und betete. Plötzlich kam die Schwiegermutter unvermittelt zur Tür herein und schrie Anna an, was ihr einfalle, den Daniel einfach zu waschen und frisch anzukleiden, ohne sie zu fragen. Immerhin sei er ihr Sohn, den Anna ihr einfach weggenommen habe. Da kam auch der alte Bauer in die Stube zurück und wohl zum ersten Mal in seinem Leben schrie er seine Frau an: »Sei jetzt endlich still! Wenn du schon auf die Lebenden keine Rücksicht nimmst, dann doch wenigstens auf die Toten.« Dann sackte er auf dem Stuhl neben der Tür zusammen und schluchzte hemmungslos wie ein kleines Kind.
Anna hielt die ganze Nacht Totenwache und ging erst beim Morgengrauen zu Bett. Auf einmal hatte alle Kraft sie verlassen. Sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen, als sie die alte Holzstiege zur Kammer hinaufstieg. Betäubt vor Schmerz legte sie sich in Daniels Bett. Es roch nach ihrem geliebten Mann. Sie rollte sich wie eine Schnecke unter der Bettdecke zusammen und weinte. Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie beim Aufwachen nicht. Lange konnte es nicht gewesen sein. Von unten in der Stube hörte sie Stimmengewirr und sie schlüpfte schnell aus dem Bett. Das Wasser in der Waschschüssel war gefroren, die Fenster waren total vereist und selbst auf der Bettdecke lag Raureif. Sie lief die Treppe hinunter und betrat die Stube. Da stand ein großer Mann im grünen Umhang und mit einer markanten Hakennase, das konnte nur der Jäger Dorn vom Ostrachtal sein, von allen wegen der Nase nur Adlerdorn genannt.
Gerade forderte er Seppi auf, den Toten zu entkleiden, da er die Wunde sehen wolle. Aber es war Anna, die Daniel die Joppe aufknöpfte, unter der er die braune Strickjacke trug, die Anna ihm erst vor zwei Wochen geschenkt hatte. Dann knöpfte sie auch sein weißes Hochzeitshemd auf und schob die Leinentücher auf der rechten Brustkorbseite beiseite, die vom Blut rot verfärbt waren. Anna weinte leise, als sie die blauschwarze Wunde erneut vor Augen hatte. Der Jäger drehte Daniel zur Seite. Der Einschuss war eindeutig von hinten erfolgt. »Du kannst deinen Mann wieder anziehen«, befahl ihr Dorn. Anna knöpfte ihrem Mann erst das Hemd, dann die Strickjacke und schließlich die Joppe wieder zu. Dabei weinte sie ununterbrochen vor sich hin. »Wo ist der Stutzen?«, fragte der Jäger streng. Anna drehte sich wortlos um, bückte sich und holte den Stutzen unter der Ofenbank hervor. »Es fehlt keine Patrone«, sagte sie mit dünner Stimme. Dorn überzeugte sich selbst. Ohne ein einziges Wort des Mitgefühls gab er bekannt, dass er den Stutzen mitnehmen würde. Wegen der weiteren Ermittlungen, wie er sagte. Dann verließ er das Anwesen auf der Breite so schnell und grußlos, wie er gekommen war.
Im Laufe des Nachmittags kamen viele Menschen von den nahe gelegenen Dörfern, um Daniel noch einmal zu sehen und sich von ihm zu verabschieden. Ein nicht enden wollender Strom von Männern, Frauen und Kindern strömte den steilen Trampelpfad zur Breite herauf und trat in die Stube, in der Daniel aufgebahrt lag. Die Bestürzung über seinen Tod war groß in der Bevölkerung. Noch größer aber war die Trauer, dass einer nicht mehr da war, der zu ihnen gehalten hatte, der ihre Nöte ernst genommen hatte, weil er sie kannte. Und der ihnen auch geholfen hatte, soweit es in seiner Macht stand – auch wenn es der Obrigkeit nicht passte. Allein Anna half das wenig. Sie hatte den Menschen verloren, der alles für sie gewesen war: Freund,
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