Herrgottswinkel
Anna sofort erkannte. Von der Kirchtür bis weit hinein in den Friedhof standen grimmig aussehende kräftige Männer Spalier, zweiundfünfzig an der Zahl, einer für jede Woche im Jahr des Herrn. Alle von ihnen trugen lange braune Kotzen, die meisten von ihnen hatten einen dichten Vollbart und graue Filzhüte mit Gamsbärten auf den Köpfen – und Anna kannte keinen von ihnen. Erst als Henne ihr ins Ohr flüsterte, wer diese Respekt gebietenden, fast Furcht einflößenden Kerle waren, konnte Anna sich einen Reim auf die seltsame Ehrbezeigung machen, die nun sechsundzwanzig Männer links und weitere sechsundzwanzig rechts von ihr wie auf ein verstecktes Zeichen hin ausführten. Sie hoben ihre am oberen Ende fast wie ein Bischofsstab gekrümmten mannshohen Wurzelstöcke in die Luft, sodass sich deren Spitzen über dem Sarg, den Trägern und der trauernden Familie berührten und eine Art Tunnel bildeten, den alle in Richtung Friedhof durchschreiten mussten. Vereinzelt waren nun wütende Rufe, Protestschreie, ja sogar Flüche und Verwünschungen aus der Menge der Trauernden zu hören. Der arme Pfarrer hatte seine liebe Not, alles unter Kontrolle zu halten, indem er auf den Anlass und den heiligen Ort, an dem sie sich befanden, hinwies. Nach einer Weile hatten Zorn und Wut wieder Platz gemacht für Stille und Abschiednehmen – und alle Anwesenden begaben sich auf den kurzen Weg von der Kirche zum Friedhof.
Auch dort hatte der Schnee alles in Besitz genommen, hatte sämtliche Grabsteine unter einer weißen Decke versteckt. Nur an einem einzigen Punkt war dieses riesige Leichentuch unterbrochen, und auf diese Stelle schritten die Sargträger langsamen Schrittes zu. Schließlich wurde der Sarg mit Hilfe von zwei langen Seilen Stück für Stück in die schwarze Erde hinabgelassen, ja, er schien darin zu versinken wie ein Ge genstand, den man ins Moor wirft und der für immer verloren ist, wenn sich die schwarze Masse wieder über ihm schließt. Anna glaubte, vor Trauer nicht mehr weiterleben zu können.
Sie musste gestützt werden, als sie zurückgingen, um die Heimfahrt anzutreten. »Anna, du musst jetzt tapfer sein und an dein Kind denken! Vergiss nie, die Zeit heilt alle Wunden«, verabschiedete sich der Vater von ihr, denn sie sollte bei den Schwiegereltern wohnen bleiben.
»Diese Wunde heilt nie, Vater«, gab Anna zurück und umarmte ihn und ihre Geschwister. Dann trug sie ihnen noch einen Gruß und Genesungswünsche an ihre Mutter auf, die wieder einmal krank das Bett hüten musste und ihrer Tochter in dieser schweren Stunde keinen Beistand hatte leisten können.
In gedrückter Stimmung schloss sie sich ihrer neuen Verwandtschaft an, die bereits losmarschiert war. Vor ihr ging ihre Schwiegermutter, eingerahmt von Burgel und Seppi. Die beiden redeten wild auf die ältere Frau ein. Der alte Gundler war mit einer Grippe ans Bett gefesselt und hatte wie ihre Mutter daheimbleiben müssen. Wie in jedem Jahr hatte sich der Winter über die am wenigsten Widerstandsfähigen hergemacht, und sie durften froh sein, wenn sie unbeschadet ins nächste Frühjahr kamen.
Mit solchen Gedanken über Krankheit und Tod lief Anna so vor sich hin, als sie plötzlich ihren Namen hörte und jäh in die Realität zurückgerissen wurde. Sie musterte die drei vor ihr herlaufenden schwarz gekleideten Gestalten. Da war einmal Burgel, ihre Schwägerin: die Erstgeborene der noch lebenden Kinder, hündisch ihrer Mutter ergeben, im besseren Fall von burschikosem Auftreten, meist jedoch hinterhältig und beleidigend. Dabei war sie auch noch bigott und plante sogar, nach dem Tod ihrer Eltern ins Kloster zu gehen, da sie wohl keinen Mann mehr abbekommen würde, wie Daniel Anna gegenüber einmal gemeint hatte. Dann war da ihr Schwager Seppi, drei Jahre jünger als sein Bruder Daniel – und immer in seinem Schatten. Er war nicht nur schmächtig, sondern seinem Bruder auch geistig weit unterlegen, deswegen hatte er ihm stets nachzueifern versucht und alles nachgeplappert, was Daniel zum Besten gab. Noch immer hatte er höchstens einmal im Jahr eine eigene Meinung und schien sich nach Daniels Tod nun von seiner Schwester durchs Leben ›leiten‹ zu lassen. Und als dritte Person kam die ›Krönung‹ von Annas neuer Familie: Die alte Gundlerin war eine kleine, ausgemergelte Person, vom Leben wie von der vielen Arbeit gezeichnet, und sie hatte darüber ein hartes Herz bekommen, war eiskalt und berechnend, unnahbar und undurchschaubar geworden.
»Da
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