Herrgottswinkel
um einzutreten, stellte sie fest, dass die Tür verschlossen war. Sie rüttelte, doch drinnen war kein Geräusch zu hören und aus keinem der Fenster fiel irgendein Licht nach draußen. Wo steckte ihre neue Familie nur? Anna stapfte im knietiefen Schnee um das Haus herum. Sie rief mehrere Male und dabei immer lauter, doch von nirgendwo bekam sie eine Antwort. Als sie den Hof umrundet hatte und wieder bei der Haustür angelangt war, versuchte sie, durchs nächstgelegene Fenster einen Blick in die Küche zu werfen.
Da erblickte sie schemenhaft im Dunkel die drei zusammengekauerten Gestalten, die sich um den Küchentisch in die Ecke des Herrgottswinkels drückten und schweigend aus einer Schüssel in ihrer Mitte das Abendessen löffelten. Anna klopfte mit ihren steif gefrorenen Fingern ans Fenster und bat nochmals laut um Einlass. Da sah sie, wie ihre Schwiegermutter – nach einigem Zögern – sich endlich langsam von der Eckbank erhob, schlurfend in Richtung Haustür kam und kurz darauf wurde ihr endlich geöffnet.
»Bisch endlich au do, fascht hätt mer scho nimmer damit grechnet.« Das war ein Willkommensgruß, der sich gewaschen hatte, Anna verschlug es die Sprache. Geschwind schlüpfte sie ins Haus und verriegelte die alte, knarrende Tür wieder. Dann folgte sie der Alten in die Küche und rieb ihre klammen Hände vorm Ofen, in dem das Feuer prasselte.
»Ja, wo kommst du denn jetzt her«, stieß Burgel, ihre Schwägerin, ins selbe Horn wie vorhin die alte Hexe, die gerade ihrem Mann stolz berichtete, wie viele Menschen auf die Beerdigung ihres Sohnes gekommen waren. Der alte Gundler musste soeben erst in die Küche gekommen sein. Anna setzte sich zu Schwager und Schwägerin an den Tisch und aß warme Milch mit Brocken. »Viel ist nicht mehr da«, bemerkte Burgel schnippisch. »Doch wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muss essen, was übrig bleibt, gell Bruder.« Anna nahm sich wortlos die letzten Brotstücke aus der fast leeren Milchschüssel.
Nachdem alle ihr Essen beendet hatten, ging der alte Gundler zurück ins Bett, weil ihn wieder fröstelte. Seine Frau Walli, Burgel und ihr Bruder Seppi machten sich in den Stall auf, um die Kühe zu versorgen. Anna aber blieb in der Küche zurück, räumte das Geschirr ab und begann es am Herd zu spülen. Dann kochte sie Tee für sich und den Schwiegervater und machte ihm eine heiße Bettflasche aus Kupfer zurecht, die sie schließlich sorgfältig in ein Tuch wickelte. Sie brachte den Tee und die Wärmflasche nach oben in sein Schlafzimmer über der Küche.
Danach ging sie zurück in die Küche, den einzigen warmen Raum im ganzen Haus, wusch Hände und Gesicht mit heißem Wasser aus der alten blechernen Spülschüssel, in die sie vorher wie üblich etwas Milch gegeben hatte, und badete schließlich ihre Füße, die sich noch immer wie Eiszapfen anfühlten, in dem warmen Wasser, bis diese vom zurückkehrenden Blut anschwollen und fast so rot wie blühender Mohn geworden waren. Dabei nahm sie hin und wieder einen kleinen Schluck vom Kamillentee aus dem irdenen Becher, der neben ihr auf dem Küchentisch stand. Sie hatte die Kamille letzten Sommer selbst geerntet in ihrem kleinen Garten auf der Alpe Rangiswang, hatte sie dann an einer Leine in Sonne und Wind sorgfältig getrocknet und schließlich in kleine Leinensäckchen gefüllt, die sie nun nur in heißes Wasser zu legen brauchte und schon war das gut schmeckende und dazu noch die Abwehrkräfte fördernde Getränk fertig.
Rangiswang! Allein der Name rief in ihr den letzten Sommer, die Unbeschwertheit – und die Erinnerung an Daniel zurück. Wie schön das Leben damals gewesen war, dachte sie. Und wie schnell es verflogen, und sie aus dem Himmel in eine Hölle geworfen worden war. Heute wollte sie mit niemandem aus der Familie mehr zusammentreffen und so war sie bereits oben in ihrer Kammer und lag im Bett, als die anderen wieder aus dem Stall zurückkamen.
Von nun an machte Anna zusammen mit Burgel den Haushalt, die Wäsche und half aus, wo man sie sonst noch brauchte. Wenn es die Zeit erlaubte, nähte oder strickte sie aus Wollresten oder aufgetrennten alten Kleidungsstücken Sachen für ihr Kind. Ihrer Schwiegermutter Walli ging sie, so weit das möglich war, aus dem Weg. Und das war auf einem so kleinen Hof nicht leicht. Die Tage und Wochen vergingen eintönig und unterschiedslos, und ehe sich’s Anna versah, konnte es nun schon jeden Tag so weit sein, dass sich die Wehen einstellten und das Kind in die Welt
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