Herrgottswinkel
stapfte mit ihrer Schwägerin wieder mühsam im knietiefen Schnee den Berg hinauf nach der Breite. Die Stunden vergingen. Es gab kein Lebenszeichen von Daniel. Schon brach die Dämmerung herein, als Anna endlich hoch oben am Waldrand über der Breite eine Lichterkette von Fackeln entdeckte.
Schnell zog sie ihren Umhang über und lief dem Licht entgegen. In dem tiefen Schnee kam sie jedoch nur langsam voran, und die Erschöpfung wurde mit jedem Schritt größer. Allein ihr eiserner Wille ließ sie durchhalten und so quälte sie sich Schritt für Schritt durch die immer höher werdenden Schneemassen den Berghang hinauf. Ihr Atem bildete in immer kürzer werdenden Stößen Nebel in der kalten Luft vor ihrem Gesicht, ihr Keuchen schien das ganze Tal zu erfüllen. Doch sie kam den Lichtern näher und trotz der anbrechenden Dunkelheit konnte sie erkennen, dass die Männer jemanden bei sich hatten.
Eine Welle neuer Kraft erfüllte sie. Die letzten Meter würde sie auch noch durchhalten, sie brauchte Gewissheit. Schnell! Jetzt lag nur noch ein kurzer Anstieg vor ihr, dann würde sie die Gruppe erreicht haben. Immer wieder musste sie sich Tränen und Schweiß aus dem Gesicht wischen, der ihr aufgrund der unmenschlichen Anstrengung von der Stirn in die Augen rann. Dann hatte sie es endlich geschafft, die Gruppe war direkt vor ihr und sie bekam die Gewissheit, vor der sie sich so gefürchtet hatte.
Da vor ihr lag Daniel, schwer verwundet auf einer Bahre. Anna schrie in die dunkle Nacht und weinte trotz ihrer Erschöpfung ihre Wut und Enttäuschung laut heraus. Den ganzen Weg zurück mussten andere sie stützen und führen, so sehr war sie außer sich. Daniel stöhnte vor Schmerzen leise vor sich hin. Schließlich trug man ihn in die warme Stube seines Elternhauses und legte ihn auf den Tisch. Er hielt Annas Hand und zitterte jetzt am ganzen Körper. Alle versammelten sich um ihn herum und begannen, murmelnd das Vaterunser zu beten. Da richtete Daniel sich ein letztes Mal auf und rief »Anna!«, dann fiel er kraftlos nach hinten und war tot. Jetzt knieten sich alle auf den Boden und beteten den Rosenkranz. Anna lag mit ihrem Kopf auf Daniels Brust und schluchzte ohne Unterlass, die Tränen schienen kein Ende zu nehmen. Erst nach langen, für Anna unendlich langen Minuten hörte das Schreien in ihr auf, lösten sich die Krämpfe in ihrem Inneren etwas, fand sie wieder zu einer trügerischen Ruhe zurück, die nun die unendliche Leere offenbarte, die der Verlust ihres geliebten Daniel in ihrem Herzen gerissen hatte.
Auch das Gebet war verstummt und bis auf Henne hatten alle von Daniels Freunden das Haus verlassen. Die Verbliebenen saßen neben dem Toten in der Stube und lauschten wie erstarrt Hennes Erzählung, wie er Daniel gefunden hatte.
»Oben am Bildstöckle habe ich ihn entdeckt, da hatte er schon vor Schmerz Graswasen aus dem Boden gerissen und sich immer wieder im Schnee und seinem Blut gewälzt. Eine Blutspur führte Richtung Berghofer Wald, dort muss er überrascht und von hinten, unterhalb des rechten Schulterblatts, angeschossen worden sein. Das Unglück geschah wohl schon in den frühen Morgenstunden von Dreikönig. Daniel muss sich dann schwer verletzt auf seinem Stutzen bis zum Bildstöckle geschleppt haben. Dabei verlor er Blut, viel Blut. Den ganzen Tag war er auch noch der eisigen Kälte ausgesetzt. Irgendwann verließen ihn dann wohl seine Kräfte und er muss das Bewusstsein verloren haben«, beendete Henne weinend seine Geschichte. »Als ich ihn fand, war er teilweise schon eingeschneit und hätte ich nicht den rot verfärbten Schnee gesehen, wäre ich achtlos an ihm vorbeigegangen.« Henne ballte die Fäuste und versprach, den Tod seines Freundes bei der Obrigkeit zu rächen.
»Das hilft dem Daniel jetzt auch nicht mehr, und wer auf ihn geschossen hat, weißt du ja auch nicht«, sagte Anna mit Tränen in den Augen.
Bald darauf verabschiedete Henne sich und trat schweren Herzens den Heimweg an, denn er musste auch heute, an diesem Schicksalstag, seine Tiere im Stall versorgen. Burgel ging mit ihren Eltern ebenfalls in den Stall, und Anna und Seppi zogen den blutüberströmten Daniel aus und wuschen ihn wortlos. Beide weinten und sprachen kein Wort. Anna holte saubere Sachen und kleidete ihren Mann liebevoll an. »Warum nur, Daniel, warum«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme, »hast du dein Versprechen gebrochen und bist heimlich aus unserem warmen Bett geschlichen? War dir deine alte Leidenschaft so
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