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Herrgottswinkel

Herrgottswinkel

Titel: Herrgottswinkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramona Ziegler
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Augen kam er ganz nach ihr, nur seine Zähne standen nicht so gerade wie die ihren, was wohl daher kam, dass er auch mit acht noch heimlich nachts am Daumen lutschte.
    Morgen Abend nach dem Essen würden sie und ihr Mann mit Heinz sprechen und ihm ihre Entscheidung mitteilen. Das Herz blutete ihr wieder einmal, doch es gab keine andere Möglichkeit: Je eher ein Esser vom Tisch verschwand, desto besser. Beim Nähen fielen ihr nun fast die Augen zu und beinahe hätte sie eine Naht falsch angesetzt. Der Arbeitstag dauerte schon lange und die letzten Nächte waren ebenfalls verdammt kurz gewesen. Doch sie ging erleichtert zu Bett, denn die Entscheidung war gefallen und es war eine Entscheidung zum Wohle aller, wie sie glaubte.
    Am nächsten Abend gab es nach dem Abendessen Schokoladenpudding zum Nachtisch und Erika fragte erstaunt, ob es etwas zu feiern gäbe. »In gewisser Weise ja«, sagten die Eltern. »Euer Bruder Heinz wird in ungefähr einem Monat bei den Bechtelers als Hütebub anfangen. Außerdem geht Engelbert in voraussichtlich acht Wochen wieder mit dem Groß vater auf den Berg. Dann werden wir nur noch zu viert hier am Tisch sitzen.«
    Heinz wollte der Schokoladenpudding nach diesen Worten zwar nicht mehr so recht schmecken, doch aß er trotzdem hastig auf und ging dann wie jeden Abend um dieselbe Zeit zu Bett. Am nächsten Morgen hatte er eingenässt, doch da rüber wurde nicht gesprochen, das Leben ging weiter wie immer.
    Bald war der Tag gekommen, an dem Anna die kleine Tasche mit Wäsche für Heinz vollpackte. Morgen nach der Schule würde es so weit sein, Heinz zog zu den Bechtelers. Die letzten Wochen waren viel zu schnell vergangen, immer wieder hatte der kleine Junge sie mit leiser, fast flehender Stimme und manchmal unter Tränen gebeten, ob er nicht doch zu Hause bleiben dürfe. Einmal hatte er sogar versprochen, nicht mehr so viel zu essen. Doch Anna war bei ihrer Entscheidung geblieben, obwohl ihr fast das Herz stehenblieb. Sie hatte die Verpflichtung, alle satt zu bekommen, da musste sie es hinnehmen, dass sie einem aus der Familie auch mal wehtun musste. Die Familie war ihr Ein und Alles, besonders die Kinder, und darüber konnte es schon passieren, dass sie vor lauter Problemen manchmal ihren Mann vergaß. Sie hatte die Wechseljahre bereits erreicht, wogegen Erich sich in der Blüte seines Lebens befand. Er war gerade dreiunddreißig geworden. Aber bald sollte ja alles besser und einfacher werden, daran glaubte sie fest, dann würde sie wieder mehr Zeit und Muße haben, sich ihrem Mann zuzuwenden.
    Heinz bekam bei den Bechtelers eine Kammer über dem Stall. Dort war es auch im Winter schön warm, weil die Wärme, die das Vieh erzeugte, zu ihm hochstieg – der Duft ihrer Ausdünstungen leider auch. Heinz wurde in der neuen Familie herzlich aufgenommen und in kürzester Zeit war ihm das Ausmisten und Melken so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er es auch im Schlaf zustande gebracht hätte. Eine neue Erfahrung war für ihn außerdem, dass der Tisch immer reichlich gedeckt war und die jungen Bechtelers sich so viel Zeit für etwas scheinbar Überflüssiges wie das Musizieren nehmen konnten. Elfriede spielte Gitarre, Maria die Zither, Eugen Trompete. Sie brachten Heinz in seinem ersten Jahr nicht nur die Noten bei, er lernte von ihnen, ganz besonders aber von Eugen, das Flötenspiel.
    Ein gutes Leben, dachte Heinz, als das Jahr vorüber war, vor allem, was die Verpflegung betrifft. Ein schönes Leben, was die Musik angeht. So hätte er eigentlich vollkommen zufrieden sein können, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass er viermal am Tag an seinem Elternhaus vorbeimusste. Am Morgen, wenn er zur Schule ging, musste er die Milch bei der Sennküche abliefern und auf dem Weg dorthin lag der Hof, in dem seine Familie wohnte. In der Sennküche wurde seit einigen Jahren die Milch nur noch gesammelt und dann abtransportiert, da es dort niemanden mehr gab, der für die Weiterverarbeitung zuständig war. Der Senn war im Krieg, das schien den Mächtigen im Lande wichtiger zu sein, als sich um die Milch zu kümmern. Am Mittag, wenn Heinz von der Schule nach Hause ging und die leeren Milchkannen wieder mitnahm, kam er zum zweiten Mal an der Wohnung seiner Familie vorbei. Und diese Prozedur wiederholte sich am Abend beim Abliefern der vollen Milchkannen und beim Zurückbringen der leeren.
    Jedes Mal lief er Gefahr, dass seine Geschwister ihn vom oberen Fenster aus hänselten, einmal rannte ihm Erika

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