Herrgottswinkel
angegeben hatte als sonst. Komisch, er hatte ihr gar nicht mitgeteilt, dass er umgezogen war. Ein seltsames Gefühl beschlich sie.
Anna zerriss ihren Brief und schickte stattdessen ein Telegramm an Erich, dass sie ihn kommenden Freitag in Leverkusen besuchen würde. Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, bis sie seine Antwort in Händen hielt.
»Komme bitte nicht. Ausführlicher Brief folgt. Erich.«
Zwei Tage später lag ein dicker Brief vor ihrer Wohnungstür, in dem Erich ihr so schonend wie möglich die Wahrheit beizubringen versuchte. Er war bei einer Kriegerwitwe eingezogen. Sie war zwölf Jahre jünger als er.
Ihr Vater hatte recht behalten.
Annas Hände zitterten. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da las.
FÜNFTES KAPITEL
Keine zehn Pferde hätten Anna von ihrem Vorhaben abbringen können. Sie würde nicht zu Hause sitzen und tatenlos zusehen, wie ihr eine fremde Frau den Mann und Vater ihrer Kinder wegnahm. Ihr Entschluss stand fest. Sie wollte um ihren Mann kämpfen. Als Erstes besprach sie den Plan mit ihren Kindern. Sie hatte vor, auch gegen den ausdrücklichen Willen ihres Mannes, am kommenden Freitag nach Leverkusen zu fahren und Erich wieder nach Hause zu holen. Heinz fand die Idee großartig, wollte seine Mutter aber auf keinen Fall die lange Zugreise allein machen lassen. Er würde sie begleiten. Anna holte also ihre letzten Ersparnisse hervor, denn da Erich in letzter Zeit kein Geld mehr geschickt hatte, lebten sie und ihre Familie augenblicklich von der Hand in den Mund. Als Nächstes stand ein Friseurbesuch an. Sie ließ sich die Haare kurz schneiden und von ihrer Tochter zeigen, wie man sich dezent schminkt, zog ihr neuestes Kleid, das mit den breiten grünen und weißen Längsstreifen, an und stellte sich vor den Spiegel. Sie war nicht bis in alle Details zufrieden mit dem, was sie sah, aber so würde sie ihren Mann auf alle Fälle eher zurückgewinnen als vorher.
»Niemand kann doch einfach neunzehn Ehejahre aus seinem Leben streichen«, dachte sie, als der Zug gemütlich Richtung Kempten schaukelte. Heinz saß schweigend neben ihr und hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Stimmung war gedrückt, keiner von ihnen wusste, was sie in Leverkusen erwarten würde. Nach einem langen Tag in überfüllten Zügen erreichten sie abends endlich das Ziel ihrer Reise. Anna war übernervös und verunsichert, da sie noch nie in einer so großen Stadt gewesen war. Zum ersten Mal in ihrem Leben bestieg sie ein Taxi und Heinz nannte dem Fahrer die Adresse, zu der sie wollten. Er bezahlte, dann suchten sie auf dem Klingelschild des Gebäudes mit den acht Einträgen den Namen ›Kiesow‹. Es gab ein Schild ›Meck/Kiesow‹, das musste es sein, Anna drückte den Klingelknopf. Daraufhin öffnete sich im zweiten Stock ein Fenster und eine blonde Frau schaute neugierig zu ihnen herunter.
»Ja, bitte? Was wollen Sie?«
Anna hatte einen solchen Kloß im Hals, dass sie nichts herausbrachte.
So übernahm Heinz es, die peinliche Situation zu regeln. Wie gut, dass er dabei war! »Mein Vater, Herr Erich Kiesow, soll bei Ihnen wohnen. Könnte er bitte herunterkommen? Wir wollen mit ihm sprechen.«
»Einen Moment bitte. Ich bin gleich unten«, rief die Frau ihnen zu.
Nach wenigen Minuten ging die Haustür auf, und Anna stand der Blonden direkt gegenüber. Sie war sehr zierlich gewachsen und ihre rotblonden lockigen Haare waren exakt kinnlang geschnitten. Die helle Haut von Gesicht und Händen war über und über mit Sommersprossen bedeckt, was der Frau eine sympathische Ausstrahlung gab. Die seltsam grün leuchtenden Augen ließen sie im Kontrast dazu eher geheimnisvoll erscheinen. Eine äußerst attraktive Frau, musste Anna zugeben – und das genaue Gegenteil von ihr selbst!
»Erich ist gerade nicht da, er hat Nachtschicht und kommt erst morgen früh von der Arbeit«, meinte die Frau mit einem Singsang in der Stimme, der wohl dem hiesigen Dialekt geschuldet sein musste.
Da momentan nichts auszurichten war, verabschiedeten sich Heinz und Anna wieder, dann gingen sie stadteinwärts. Anna musste sich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, mit hängenden Schultern, den Blick nach unten gerichtet und ab und zu leise schluchzend, schleppte sie sich langsam den Gehsteig entlang. Heinz hatte tröstend den linken Arm um die Schulter seiner Mutter gelegt, in seiner rechten Hand hielt er ihre gemeinsame kleine Reisetasche. Sie sagten beide nichts, waren nur unendlich müde von der Reise und
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