Herrgottswinkel
sogar mit dem kleinen German an der Hand nach und machte sich über ihn lustig. Heinz war den Tränen nah. Immer wieder musste er es über sich ergehen lassen, dass seine eigenen Geschwister ihn beschimpften und beleidigten. »Nesthupferle« und »Kuckucksei« riefen sie ihm nach, ausgerechnet ihm, den man aus dem Nest geworfen hatte! Manchmal machte er extra einen Umweg zur Sennküche übers obere Dorf und zurück zu seinem neuen Zuhause, um den Demütigungen zu entkommen. Nur am Samstag, da wurde er von seiner Mutter verwöhnt. Er durfte in der Stube daheim in der Zinkwanne voll warmem Wasser sitzen und bekam den Rücken mit Kernseife geschrubbt und nach dem Baden mit Johanniskrautsalbe eingerieben. Anschließend gab es ein Stück Gugelhupf oder Zopf.
Obwohl nun zwei Esser weniger am Tisch saßen, wollte die Not bei Anna und Erich Kiesow nicht enden. Und wo die Not einzieht, da zieht die Liebe aus. Die Eheleute lebten sich auseinander – unmerklich zuerst, unübersehbar, als weitere zehn Jahre ins Land gegangen waren. Sicher, Anna liebte ihren Mann noch immer, aber es gab so viel Arbeit, um die Familie über Wasser zu halten, und immer war Wichtigeres zu tun, als die winzige Flamme ihrer Liebe neu zu entfachen oder zumindest nicht erlöschen zu lassen.
Erich half seiner Frau im Haushalt, wo er nur konnte. Waren Einkäufe zu machen, lief er mit Tochter Erika nach Sonthofen und machte die Besorgungen. An Silvester begleitete Anna ihn, da er einen schwarzen Anzug brauchte. Am Morgen war unerwartet Annas Vater Engelbert im hohen Alter von vierundachtzig Jahren an den Folgen einer Thrombose im Bein gestorben. Rosel hatte Anna schon früh geweckt, um ihr mitzuteilen, dass sich sein Zustand verschlechtert hatte. Sofort war sie, noch im Nachthemd, zu ihm ans Bett geeilt. Engelbert bekam kaum mehr Luft, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn und Rosel weinte. Noch einmal sah er sie mit weit aufgerissenen Augen an, dann ging alles sehr schnell. Bevor Anna begriff, was geschah, hatte ihr Vater seinen letzten Atemzug getan. Anna konnte nicht weinen, zu viel war zwischen ihnen vorgefallen. Nähe und Vertrauen hatte es nie gegeben. Um Rosel zu trösten, legte sie einen Arm um ihre Schwester.
Jetzt brauchte Erich einen Anzug, denn Engelberts Beerdigung sollte bereits übermorgen stattfinden. Als sie einen angemessenen Anzug erstanden hatten, schauten sie noch kurz bei dem Lebensmittelgeschäft vorbei, wo Erich immer seine Wocheneinkäufe machte. Anna stand gerade an der Kasse und verstaute Zucker und Mehl in einer Tasche, da kam eine der Verkäuferinnen auf ihren Mann zu. »Lange nicht gesehen, Herr Kiesow. Haben Sie uns heute statt Ihrer Tochter einmal Ihre Mutter mitgebracht?«
Anna senkte den Kopf. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie gehört hatte. Erich bezahlte die Rechnung und sie verließen grußlos den Laden. Schweigend gingen sie nebeneinander her und Anna fragte sich insgeheim, warum er nicht richtiggestellt hatte, dass sie seine Ehefrau war und nicht seine Mutter. Sah sie wirklich schon so alt aus? Wann hatte sie sich das letzte Mal in einem Spiegel genauer betrachtet? Vor Wochen? Vor Monaten?
Zu Hause angekommen, stürmte sie sofort ins Schlafzimmer und schaute in den Spiegel über der Kommode. Tränen schossen ihr in die Augen, tropften von ihrem Gesicht. Die Verkäuferin hatte recht! Schon mit fünfundfünfzig wirkte sie alt und grau. Jegliche Ausstrahlung war verloren gegangen. Die Augen lagen in tiefen Höhlen und waren von dunklen Ringen umgeben, die Wangenknochen stachen aus ihrem Gesicht hervor, die Gesichtshaut war weißlich und von tausenden kleiner Äderchen durchzogen. Schmale Lippen, glanz loses Haar und ein faltiger Hals komplettierten den traurigen Anblick. Dazu kam auch noch, dass vom vielen Sitzen und den Geburten ihre Hüften in die Breite gegangen waren. Warum hatte Erich nie eine Andeutung gemacht, dass sie sich mehr um sich kümmern sollte? Aber diese Frage konnte sie sich gleich selbst beantworten: War es denn kein Zeichen, dass er lieber seine Tochter zum Einkaufen mitnahm als sie?
»Findest du mich eigentlich noch schön, Erich«, fragte sie abends im Bett ihren Mann.
»Du stellst vielleicht Fragen«, erwiderte Erich und blickte noch nicht einmal von seinem Buch hoch.
»Warum hast du heute Nachmittag der Verkäuferin nicht gesagt, dass ich deine Frau bin? Hast du dich meinetwegen geschämt?«
Erich legte das Buch beiseite und drehte ihr den Rücken zu. »Ich würde gerne
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