Herrgottswinkel
würde, zumindest neu zu streichen. Auf die Schnelle hatte man deswegen den ganzen Bahnhof einfach mit Stoff bespannt, um dem Führer den Anblick von verschmutzten Mauern und bröckelndem Putz zu ersparen. In seinem Reich durfte es nichts Marodes geben, deswegen versteckte man es einfach. So v ieles wurde versteckt und doch hatte jeder die Stoffbahnen direkt vor seinen Augen, die das Unerwünschte unsichtbar machen sollten.
»So eine Verschwendung«, Anna war außer sich, »was man daraus alles hätte nähen können!« Sie zog Erich und ihre Kinder weg von diesem Schandfleck. Selbst ihr jüngster Bruder Albert hatte zu den Gebirgsjägern nach Füssen ein rücken müssen und auch ihr Mann trug seit Neuestem eine Matrosenuniform und kam nur auf Heimaturlaub nach Hause. Wo sollte das alles enden? Nach seinen Besuchen war Anna regelmäßig von Neuem schwanger. Erst als ihm eine Granate fast den Bauch zerfetzt hatte, war zumindest für ihn dieser Wahnsinn vorbei. Eigentlich konnte Erich noch von Glück reden – denn Albert kam nie mehr nach Westerhofen zurück.
Inzwischen hatte Anna vier Kinder und sie konnte ihre Familie an keinem Tag der Woche mehr satt bekommen. Zwei weitere Kinder waren kurz nach der Geburt gestorben. Mit über vierzig war sie dann noch einmal Mutter geworden und hatte einen kräftigen Jungen, namens German, zur Welt gebracht. Noch immer verdiente Erich trotz seiner Geschicklichkeit, seinem Fleiß und seiner schweren Arbeit nur einen Hungerlohn, und obwohl Anna neben der Kindererziehung und dem Haushalt oft bis zum Morgengrauen schneiderte – die Armut wollte nicht aus ihrem Leben weichen.
Wenn sie so über ihre Näharbeiten gebeugt dasaß, alles um sie herum ruhig war, und sie ihren Gedanken und Träumen freien Lauf lassen konnte, dann hatte sie oft das Gefühl, alles in ihrem Leben falsch gemacht zu haben. Nein, sie wollte nicht undankbar sein! Sie wollte nicht mit Gott hadern. Ihre Familie war gesund, sie konnten jeden Tag aufstehen und ihr Mann und sie hatten Arbeit. Schwer war das Leben trotzdem und so wie ihr ging es vielen anderen auch. Wer hatte schon ausreichend zum Essen? Ihre Mutter brachte unter der Schürze versteckt oft einen Topf mit Milch, ein Stück Wurst, Käse oder Butter herauf. Der alte Engelbert und auch Annas Geschwister, die noch im Haus lebten, durften davon nichts mitbekommen. Später, als ihre Mutter gestorben war, gab ihr oft ihre Schwägerin Lina heimlich Lebensmittel, die unter ihr wohnte und mit Annas ältestem Bruder Max den elter lichen Hof weiter bewirtschaftete. Nein, sie durfte nicht jammern! Viele hatten nicht einmal das Glück, aus einer geheimen Quelle immer wieder etwas dazuzubekommen.
Doch alles Grübeln änderte nichts an der Situation, dass der Appetit ihrer Kinder parallel zu ihrem Wachstum zunahm. Ein Esser musste vom Tisch verschwinden, dann konnten sich die anderen wieder annähernd satt essen. Am Abend hatte ihr eine Kundin erzählt, dass bei der Familie Bechteler ein Hütebub gesucht wurde. Für die Mithilfe im Stall, beim Heuen und vor allen Dingen zum Hüten der Kühe und Schafe im Sommer auf der Weide. Kost und Logis würden frei sein, und Anna sah bei einer solchen Lösung den Vorteil, dass sie das Kind nicht ganz aus den Augen verlieren würde, weil es ja im Dorf bleiben und nur einen Katzensprung von der elter lichen Wohnung entfernt sein würde. Allerdings musste schnell gehandelt werden, damit ihr der Platz nicht vor der Nase weggeschnappt wurde.
Doch welches von ihren vier Kindern sollte sie morgen früh den Bechtelers anbieten und dann im Frühjahr zu ihnen schicken? Soviel sie hin und her überlegte, die Entscheidung fiel immer wieder auf den einen. Ihr ältester Sohn Engelbert kam nicht in Frage, schon einmal hatte sie ihn hergeben müssen, damals war er gerade vier Tage alt gewesen, und jetzt war er regelmäßig im Sommer bei ihrem Vater auf der Alpe Gschwend und half ihm bei der schweren Arbeit dort oben. Das zweite Kind, Erika, stand ebenfalls nicht zur Debatte, sie war erstens ein Mädchen und zweitens der Liebling ihres Mannes. Der jüngste Sohn German kam mit seinen vier Jahren auf keinen Fall in Frage. Blieb also nur Heinz, der drittgeborene. Zwar war auch er gerade erst acht Jahre alt geworden, doch für die Arbeit und die Anforderungen geeignet. Heinz war ein Kind, das durch seine fröhliche Art und seine Unbeschwertheit im Nu die Herzen der Mitmenschen eroberte. Mit seinen kohlrabenschwarzen Haaren und seinen dunkelbraunen
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