Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrin der Dunkelheit

Herrin der Dunkelheit

Titel: Herrin der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Leiber
Vom Netzwerk:
dunkler erscheinen.
    Er war völlig angezogen, seine Füße schmerzten in den Schuhen.
    Er erkannte mit überwältigender Dankbarkeit, dass er wach war, dass Daisy und der vegetative Horror, der sie zerstört hatte, verschwunden waren, verweht wie Rauch.
    Er stellte fest, dass er sich all des Raums, der um ihn war, akut bewusst wurde: der kalten Luft an Gesicht und Händen, der Ecken seines Zimmers, des Spalts zwischen den beiden Hochhäusern, der Tiefe von sechs Stockwerken, die zwischen seinem Fenster und der Straße lagen, des siebenten Stockwerks und des Daches über ihm, der Halle auf der anderen Seite der Wand, hinter dem Kopfteil seines Bettes, der Besenkammer hinter der Wand, an der Daisys Porträt hing, über Fernandos Stern, und des Lüftungsschachts hinter der Besenkammer.
    Und alle anderen Gefühle und Gedanken schienen genauso lebhaft und ursprünglich. Er sagte sich, dass er sein Morgenbewußtsein wiedererlangt hatte, vom Schlaf reingespült, frisch wie kühle Seeluft. Wie wunderbar! Er hatte die ganze Nacht durchgeschlafen (hatten Cal und die beiden Männer leise angeklopft und waren dann verständnisvoll grinsend wieder gegangen?) und war nun vielleicht eine Stunde vor Tagesanbruch aufgewacht, zu Beginn der langen, astronomischen Dämmerung, einfach, weil er zu früh eingeschlafen war. Ob Byers auch so gut geschlafen hatte? – er bezweifelte es, selbst nicht mit seinen mager-schlanken, dekadenten Gespielinnen.
    Doch dann realisierte er, dass noch immer Mondlicht ins Zimmer fiel, wie um die Zeit, als er eingeschlafen war, und das bewies, dass er höchstens eine Stunde geschlafen haben konnte.
    Seine Haut begann ein wenig zu prickeln, die Beinmuskeln spannten sich an, alle Lebensfunktionen seines Körpers waren beschleunigt, wie in Erwartung von … er wusste nicht, in Erwartung wessen.
     
    Er fühlte eine paralysierende Berührung im Nacken. Dann fuhren die dünnen, stacheligen, trockenen Ranken – so fühlte es sich an – aber es waren jetzt weniger als in seinem Traum – leise raschelnd durch seine vor Angst gesträubten Haare, an seinem Ohr vorbei über die rechte Wange zum Kinn. Die Ranken wuchsen aus der Wand … nein … es waren keine Ranken, es waren die Finger der schmalen rechten Hand seines ›Studentenliebchens‹, die sich aufgerichtet hatte und jetzt nackt neben ihm saß, eine große, fahle Gestalt, deren Gesicht in dem unsicheren Licht unkenntlich blieb. Es war aristokratisch länglich, genau wie ihre Kopfform (schwarzes Haar?), darunter ein schlanker Hals, breite Schultern, schmale Hüften, und lange, lange Beine – die ihn stark an den skelettartigen Fernsehturm erinnerten, einen sehr viel schlankeren Orion (in dem Rigel als Fuß diente und nicht als Knie).
    Die Finger ihrer rechten Hand – sie hatte ihren nackten Arm jetzt um seine Schultern gelegt – krochen über Wange und Kiefer auf seine Lippen zu, während sie sich umwandte und ihr Gesicht dem seinen näherte.
    Es war noch immer unkenntlich, anonym im Dunkel, doch unwillkürlich formte sich in seinem Gehirn die Frage, ob die Hexe Asenath (Waite) Derby ihren Ehemann Edward Derby mit einem so intensiven Blick angesehen hatte, als sie zusammen im Bett waren und der alte Ephraim Waite (Thibaut de Castries?) gemeinsam mit ihr aus ihren hypnotisierenden Augen starrte.
    Sie lehnte ihr Gesicht noch näher zu dem seinen, und die Finger ihrer rechten Hand krochen sanft, doch bedrängend höher, zu seinen Nasenlöchern, seinen Augen, und aus dem Dunkel zu ihrer linken Seite hob sich die andere Hand an ihrem schlangenschlanken Arm und näherte sich ebenfalls seinem Gesicht. Alle ihre Bewegungen waren elegant und ästhetisch.
    Er fuhr zurück, wehrte ihre Berührung mit der linken Hand ab und schnellte sich mit der rechten und beiden Beinen über den Kaffeetisch, der dabei umgerissen wurde und alles, was auf seine Platte gehäuft war, polternd und krachend und splitternd – die Gläser, die Flasche und den Feldstecher – mit ihm zu Boden stürzte, wo er inmitten der Trümmer am Rand des sargförmigen Lichtrechtecks liegen blieb; nur sein Kopf befand sich im Dunkel. Unmittelbar vor seinem Gesicht lagen der große Aschenbecher, der seinen überquellenden Inhalt von Asche und Zigarettenstummeln verstreut hatte, und die ausrinnende Flasche Kirschwasser, und er atmete stinkenden Tabakteer und beißende, bittere Alkoholdämpfe ein. Er fühlte die harten Konturen der Schachfiguren unter sich. Er riss den Kopf herum und starrte in panischer

Weitere Kostenlose Bücher