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Herrin der Dunkelheit

Herrin der Dunkelheit

Titel: Herrin der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Leiber
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Sinn hatte das Leben überhaupt? Er hatte sich mühsam aus den Fesseln des Alkoholismus befreit, nur um dem Nasenlosen, jetzt mit einer neuen, länglichen Maske, erneut gegenüberzustehen. Jetzt hätte er gerne nach der Flasche gegriffen und einen Schluck von dem scharfen, beißenden Kirschwasser genommen, wenn er nicht zu müde gewesen wäre, um diese Anstrengung auf sich zu nehmen. Er war ein alter Narr, wenn er glaubte, dass Cal sich etwas aus ihm mache, genauso ein Narr wie Byers mit seiner chinesischen Bilateralen und seinen sexbesessenen Teenagern, seinem perversen Paradies von aufreizenden, schlankfingrigen, fummelnden Cherubim.
    Franz’ Blick wanderte zu Daisys Gesicht, von dunklem Haar umrahmt, das in Ölfarben gemalt, auf ihn herabsah. In der verschobenen Perspektive wurden ihre Augen zu schmalen Schlitzen, und der Mund über dem in die Länge gezogenen, spitzen Kinn schien hämisch zu grinsen.
    In diesem Augenblick begann er ein leises Kratzen in der Wand zu hören, wie von einer riesigen Ratte, die versuchte, sich möglichst lautlos durch das Mauerwerk zu graben. Aus welcher Tiefe kam das Kratzen? Er konnte es nicht feststellen. Wie waren die ersten Geräusche eines Erdbebens? – die leisen Vorboten der Katastrophe, die nur die Pferde und die Hunde wahrnehmen können? Noch ein letztes, lautes, energisches Kratzen – und dann Stille.
    Er erinnerte sich an die Erleichterung, die er gefühlt hatte, als der wuchernde Krebs Daisys Gehirn lobotomisiert hatte und sie – angeblich – in einen Zustand bewußtseinslosen Vegetierens versank.
    Die Lampe hinter seinem Kopf flammte grellgrün auf, begann zu flackern und erlosch. Er setzte sich mit einem Ruck auf, tat aber sonst nichts. Die Dunkelheit in dem Zimmer nahm Formen an wie aus den schwarzen Bildern der Hexenkunst, massenpsychotischer Wunder und olympischen Horrors, wie sie Goya im Alter allein für sich selbst gemalt hatte, ein überaus passender Heimschmuck. Er hob die rechte Hand und deutete mit dem Finger auf Fernandos jetzt unsichtbar gewordenen Stern an der Wand, dann ließ er die Hand wieder sinken. Ein kleines Schluchzen formte sich in seiner Kehle und erstickte wieder. Er drängte sich enger an sein ›Studentenliebchen‹, und seine Finger berührten ihre Lovecraft-Schulter. Er sagte sich, dass sie der einzige wirkliche Mensch war, den er hatte. Dunkelheit und Schlaf schlossen sich über ihm ohne einen Laut.
    Zeit verging.
    Franz träumte von völliger Dunkelheit und von einem lauten, weißen, knatternden, reißenden Geräusch, als ob eine endlose Bahn Zeitungspapier zusammengeknüllt und Dutzende von Büchern gleichzeitig zerrissen und ihre steifen Einbanddeckel zerhackt und zermalmt werden würden – ein Papier-Pandämonium.
    Aber vielleicht gab es dieses mächtige Geräusch gar nicht? (Es war nur die Zeit, die ihre Kehle freiräusperte), denn kurz darauf glaubte er, in zwei Zimmern gleichzeitig zu erwachen; in diesem, und einem anderen, das es überlagerte. Er versuchte, die beiden Räume zu einem verschmelzen zu lassen. Daisy lag ruhig neben ihm. Sie beide, er und sie, waren sehr, sehr glücklich. Sie hatten am Abend zuvor lange miteinander gesprochen, und es war alles gut. Ihre schlanken, seidigen Finger fuhren über seine Wangen, seinen Hals.
    Mit einem kalten Schauder kam ihm plötzlich der Verdacht, dass sie tot war. Die streichelnden Finger fuhren beruhigend über seine Wangen. Nein, Daisy war nicht tot, sie war nur sehr krank. Sie war am Leben, aber in einem vegetabilen Zustand, barmherzigerweise von ihrer tödlichen Krankheit betäubt. Entsetzlich, und doch war es immer noch ein Trost, neben ihr liegen zu können. Wie Cal war sie noch so jung, selbst in diesem Halb-Tod. Ihre Finger waren so schlank und seidig-trocken, so kräftig, als sie jetzt zugriffen – und es waren keine Finger, sondern drahtige, schwarze Ranken, die aus ihrem Schädel wuchsen, in dichten Büscheln aus seinen Öffnungen sprossen, aus dem dreieckigen Loch unter dem Nasenbein, wie Tentakel unter ihren Zähnen hervorquollen, wie Gras aus einem Riss im Straßenpflaster, aus ihrem fahlbraunen Cranium wucherten und die coronalen Nähte auseinander rissen.
    Franz fuhr auf, fast von seinen Gefühlen erstickt. Sein Herz hämmerte, und kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn.



 
28
     
    Mondlicht fiel durch das Fenster, warf einen langen, sargförmigen Schein auf den Teppichboden hinter dem Kaffeetisch und ließ den Rest des Raums durch die Kontrastwirkung noch

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