Herrin der Falken - 3
Romilly
dachte an ihren Bruder Ruyven, der vor vier Jahren über den Kadarin in den Turm von Neskaya geflohen war. Und wahrscheinlich wird Vater noch einen Sohn verlieren. Denn sogar ich sehe, daß Darren eher für den Turm oder das Kloster von Nevarsin geeignet ist als zum Erben von Falkenhof. Darren und Ruyven waren zur Ausbildung nach Nevarsin geschickt worden, wie es der Brauch von den Söhnen eines BerglandAdligen verlangte, und Darren wäre gern dort geblieben. Aber gehorsam dem Willen seines Vaters kehrte er nun heim, um seine Pflichten als Erbe zu übernehmen. Wie konnte Ruyven seinen Bruder so im Stich lassen? Darren schafft das nicht ohne einen Bruder an seiner Seite. Ruyven war nicht einmal ein Jahr älter als Darren, und die Brüder hatten immer wie Zwillinge aneinander gehangen. Zusammen waren sie nach Nevarsin gereist, doch Darren war allein zurückgekommen. Ruyven, so berichtete er seinem Vater, war in den Turm gegangen. Der MacAran las Ruyvens Brief und warf ihn in die Mistgrube. Von dem Augenblick an hatte er Ruyvens Namen nie mehr ausgesprochen und es auch allen anderen
verboten.
»Ich habe nur zwei Söhne«, pflegte er steinernen Gesichts
festzustellen. »Der eine ist im Kloster, der andere auf dem
Schoß seiner Mutter.«
Auch gegenüber der Leronis Marelie hatte er sich so geäußert.
Bei ihrem kurzen Gespräch mit Romilly sagte sie: »Ich habe
mein Bestes getan, Kind, aber er wollte nichts davon hören.
Deshalb mußt du nun dein Bestes tun, damit du deine Gabe
beherrschen lernst. Denn sonst wird sie dich beherrschen. Und
in der Zeit, die mir bleibt, vermag ich dir nur wenig zu helfen.
Erführe er, daß ich mit dir gesprochen habe, würde er mich
bestimmt nicht über Nacht beherbergen. Aber ich mußte es
tun, um dir wenigstens ein bißchen Schutz für die Zeit zu
geben, wenn dein Laran erwacht. Du wirst allein damit sein,
und es ist nicht leicht, allein damit fertig zu werden. Doch
unmöglich ist es nicht, denn ich weiß von einigen, denen es
gelungen ist. Dein Bruder gehört auch dazu.«
»Ihr kennt meinen Bruder!« flüsterte Romilly.
»Ich kenne ihn, Kind – was glaubst du denn, wer mich hergeschickt hat?« Romilly preßte die Lippen zusammen, und Marelie setzte sanft hinzu: »Du darfst nicht denken, er habe euch ohne Grund verlassen. Er liebt dich, er liebt auch euren Vater. Aber ein Käfigvogel ist kein Falke und ein Falke kein Kyorebni. Hierher zurückzukehren, ein Leben zu führen, in dem er keinen vollen Gebrauch von seinem Laran machen kann – das wäre der Tod für ihn. Verstehst du das, Romilly? Er käme sich
taub und blind und von seinesgleichen getrennt vor.«
»Aber was ist dies Laran, daß er uns alle dafür aufgibt?« fragte
Romilly. Marelie blickte traurig drein.
»Das wirst du erfahren, wenn dein eigenes Laran erwacht,
mein Kind.«
Romilly rief aus: »Ich hasse Laran. Und ich hasse die Türme!
Sie haben uns Ruyven gestohlen!« Sie wandte sich ab und
wollte nicht mehr mit Marelie reden. Die Leronis seufzte: »Ich
kann dir deine Loyalität zu deinem Vater nicht zum Vorwurf
machen, mein Kind.« Sie ging in das ihr zugewiesene Zimmer
und reiste am nächsten Morgen ab, ohne ein weiteres Wort mit
Romilly gewechselt zu haben.
Das war zwei Jahre her, und Romilly hatte versucht, es zu
vergessen. Erst in diesem Jahr war ihr klargeworden, daß sie
die Gabe der MacArans in vollem Ausmaß besaß. Sie war
irgendwie imstande, in die Gedanken von Falke, Hund und
Pferd oder eines anderen Tieres einzudringen. Jetzt wünschte
sie fast, sie hätte mit der Leronis darüber sprechen können…
Natürlich war daran überhaupt nicht zu denken. Ich mag
Laran haben, sagte sie immer wieder zu sich selbst, aber nie
würde ich für so etwas Heim und Familie aufgeben !
So hatte sie darum gekämpft, der Gabe selbst Herr zu werden.
Jetzt zwang sie sich, ruhig zu sein, gleichmäßig zu atmen. Sie
spürte, wie es sie und ein bißchen sogar die tobende Wut des
Falken beschwichtigte. Der Vogel saß bewegungslos da, und
das wartende Mädchen wußte wieder, daß es Romilly war,
nicht ein gefesseltes Tier, das sich von den einschneidenden
Riemen freizumachen versuchte…
Langsam schälte sich dies eine Stückchen Information aus dem
Wust von Angst und Aufregung heraus. Die Riemen sind zu
eng. Sie tun ihr weh. Romilly beugte sich nieder und versuchte,
nur beruhigende Wellen in das Gehirn des Falkenweibchens
abzustrahlen – aber sie ist zu verrückt vor Hunger und Panik,
um zu verstehen, sonst wäre sie ruhig und
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