Herrin der Falken
nicht. Sie hatte sich in einer verzweifelten Einsamkeit verloren, wo sie nach den Toten suchte und suchte… Romilly wanderte durch einen dunklen Traum wie über eine weite graue Ebene. Dort sah sie Clea vor sich, die lachend auf einem der toten Pferde ritt und Prudentia auf der Faust hatte.
Aber sie waren so weit voraus, ganz gleich, wie schnell sie
rannte, ihre Füße staken fest, als wate sie durch dicken Sirup.
Niemals, niemals würde sie sie einholen…
Von irgendwoher vernahm Romilly eine Stimme, die sie erkennen sollte, aber nicht erkannte. Sie hat nie gelernt, es auszuschließen. Diesmal kann ich ihr vielleicht Barrieren geben, aber ein Heilmittel gibt es nicht. Sie ist eine wilde Telepathin und deshalb ohne Schutz.
Romilly wußte nur, daß irgendwer… Carolin? Lady Maura?… leicht ihre Stirn berührte, und da war sie wieder in dem Zelt der Schwertfrauen, und die große graue Ebene des Todes war verschwunden. Zitternd und weinend klammerte sie sich an Jandria.
»Clea ist tot. Und meine Pferde, alle meine Pferde… und die Vögel…«, schluchzte sie.
Jandria hielt sie fest und wiegte sie. »Ich weiß, Liebes, ich weiß«, flüsterte sie. »Schon gut, weine um sie, wenn du mußt, weine, wir sind alle hier bei dir.« In dumpfer Verwunderung dachte Romilly: Sie weint auch.
Und sie wußte nicht, warum ihr das seltsam vorkam.
8.
Romilly erwachte. Der Morgen nach der Schlacht war grau und trostlos. Es regnete heftig. Auf dem Feld regte sich nichts außer den allgegenwärtigen Aasvögeln. Sie ließen sich von dem Wolkenbruch nicht stören und mästeten sich an den Leichen von Menschen und Pferden.
Für sie macht das jetzt keinen Unterschied mehr, dachte Romilly, aber sie war doch froh, daß Clea in der Erde lag und ihr Körper vor den grimmigen Schnäbeln der sich streitenden Kyorebni geschützt war. Doch auf diese oder eine andere Weise, er würde sich in seine ursprünglichen Elemente auflösen, Nahrung für die kleinen Tiere im Boden, für Gras und Bäume. Clea war Teil von dem großen und endlosen Zyklus des Lebens geworden, wo die, die sich von der Erde ernährten, wiederum Nahrung für die Erde wurden. Warum sollte ich dann trauern? fragte Romilly sich, und die Antwort kam ohne Nachdenken. Ihr Tod kam nicht zu dem ihr vorbestimmten Zeitpunkt, als sie ihr Leben zu Ende gelebt hatte. Sie starb in einem Streit zwischen Königen, an dem sie keine Schuld trug. Dann erinnerte sie sich an ihre Begegnung mit Lyondri Hastur. Lyondri hatte viele Grausamkeiten begangen, während Carolin es wenigstens für seine Pflicht hielt, den Bewohnern des Landes, zu dessen Regierung er geboren war, zu dienen und sie zu beschützen.
Carolin ist wie ein Pferd… bei ihrer Liebe zu Sonnenstern und den anderen Pferden kam Romilly gar nicht auf den Gedanken, sie beleidige den König… wohingegen Rakhal und Lyondri wie Banshees sind, die lebende Wesen als Beute schlagen. Zum ersten Mal in diesem Jahr bei den Schwertfrauen war Romilly froh darüber, daß Preciosa sie verlassen hatte. Auch sie schlägt lebende Wesen. Es ist ihre Natur, und ich liebe sie, aber ich könnte jetzt nicht ertragen, es zu sehen, Teil daran zu haben.
Sie kleidete sich an, zog die Kapuze ihres dicksten Mantels über den Kopf und ging, Temperentia zu versorgen. Ihre erste Regung war gewesen, das Ruyven zu überlassen. Sie fürchtete, die leeren Recks von Prudentia und Diligentia würden all das Leid um ihren Tod von neuem wachrufen. Aber sie hatte geschworen, für Temperentia zu sorgen, sie war des Königs Falkenmeisterin, und Ruyven sorgte zwar pflichtbewußt für sie, liebte sie jedoch nicht so, wie Romilly es tat.
Temperentia saß einsam auf ihrer Reck und hatte sich der kühlen Nässe wegen aufgeplustert. Sie hatten ihr einen Unterstand gebaut, aber der war kein Schutz gegen den Wind. Romilly brachte den Vogel in das Zelt, in dem seit mehreren Nächten weder sie noch Maura geschlafen hatte. Temperentia war der einzige Kundschaftervogel, der Carolins Armee geblieben war, und wenn sie sich bei diesem feuchten und nebligen Wetter erkältete, konnte sie nicht fliegen. Romilly schauderte vor der Erinnerung an ihren letzten Flug zurück. Aber sie wußte, sie würde den Vogel wieder auflassen, wie es ihre Pflicht verlangte, auch wenn er in Gefahr geriet. Nicht mit Freude – diese Freude war ein Teil der Unschuld gewesen und für immer verloren. Trotzdem mußte sie es tun, denn sie hatte den Krieg gesehen und eine Ahnung davon erhalten, was den
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