Herrin der Falken
aus der Generation des eigenen Vaters. »Ich kann die Kundschaftervögel nicht auf die bloße Faust nehmen, obwohl es bei einem Falken geht. Ihre Krallen sind zu lang, und meine Hand blutet noch von gestern. Heute möchte ich sie an einer Leine fliegen und selbst Aas aufspüren lassen.«
»Einen Handschuh sollst du haben«, sagte Dom Carlo hinter ihnen. »Gib ihm deinen alten, Orain. Er mag schäbig sein, aber er wird seine Hand schützen. Im Gepäck sind Lederreste, du kannst dir heute abend einen nähen, der dir paßt. Aber warum willst du die Vögel fliegen lassen? Einer der Männer kann doch frisches Fleisch für sie fangen. Wir haben Jagdschlingen genug, und wir brauchen auch für uns Fleisch. Schick irgendeinen.« Er sah Romilly an, und seine rötlichen Augenbrauen wanderten in die Höhe.
»Oh, so ist das?« fragte er leise. »Wer von ihnen war es, Rumal?«
Romilly blickte zu Boden. Fast unhörbar flüsterte sie: »Ich möchte keinen Ärger machen, vai dom. Es ist vielleicht besser, wenn ich die Vögel auflasse, denn Bewegung müssen sie auf jeden Fall bekommen.«
»Das bestimmt«, erwiderte Carlo. »Also laß sie der Bewegung halber fliegen. Ich will jedoch nicht haben, daß man meinen Befehlen nicht gehorcht. Gib ihm einen Handschuh, Orain. Ich werde ein Wort mit Alaric sprechen.«
Romilly sah seine Augen aufblitzen, als schlüge grauer Stahl Funken aus Feuerstein. Sie nahm den Handschuh, ging mit gesenktem Kopf zu Temperentia, nahm sie vom Block und befestigte eine Leine an ihrem Ständer. Eine Feder lag am Boden. Romilly streichelte mit ihr die Brust des Vogels, und der große, bösartig wirkende Kopf nickte wie vor Vergnügen. Es war ein guter Anfang, wenn sie die wilden Vögel an die Anwesenheit und die Berührung von Menschen gewöhnen wollte. Temperentia flog auf und stürzte sich auf einen kleinen Kadaver im Gras nieder. Romilly beobachtete, wie der Kundschaftervogel kröpfte. Er stand auf einem Fuß und riß mit Schnabel und Krallen. Danach ließ sie Diligentia auf und zum Schluß – erleichtert, denn der Arm wurde ihr müde – die kleinere, sanftere Prudentia.
Sie mögen wohl häßliche Vögel sein. Trotzdem sind sie auf ihre eigene Weise schön; Stärke, Kraft, scharfe Augen… und die Welt wäre viel schmutziger ohne solche Vögel, die aufräumen, was tot ist und verfault. Es erstaunte sie, wie die Vögel noch an der Leine Nahrung entdeckten, kleine tote Tiere im Gras, die sie selbst nicht gesehen und nicht einmal gerochen hatte. Wie hatte den Männern entgehen können, was die Vögel brauchten, wo es doch so offenkundig war?
Ich glaube, das ist es, was es bedeutet, Laran zu haben, dachte Romilly in plötzlicher Demut. Eine Gabe, die in ihrer Familie weitervererbt wurde. Sie durfte sich ihrer nicht rühmen, weil sie ihr angeboren war; sie hatte nichts getan, um sie sich zu verdienen. Nicht einmal Dom Carlo, der das kostbare Laran ebenfalls besaß – alles an dem Mann zeigte, daß ihm die Ausübung von Macht selbstverständlich war-, konnte mit den Vögeln kommunizieren, obwohl er fähig zu sein schien, einem Menschen bis in die innerste Seele zu blicken. Die Gabe eines MacAran. Oh, aber dann hatte ihr Vater unrecht, so unrecht, und sie hatte recht gehabt, auf dieser wundervollen Gabe zu bestehen, mit der sie gesegnet war. Sie zu ignorieren, zu mißbrauchen, damit zu spielen – oh, das war ganz verkehrt! Und ihr Bruder Ruyven hatte recht daran getan, von Falkenhof wegzugehen. Im Turm hatte er seinen richtigen Platz gefunden. Er war jetzt Laranzu für den Einsatz von Kundschaftervögeln. Eines Tages würde das auch ihr Platz sein…
Prudentias Wutschrei riß Romilly aus ihrem Tagtraum. Sie sah, daß der Kundschaftervogel mit dem Kröpfen fertig war und an der Leine zerrte. Romilly ließ ihn eine Weile im Kreis fliegen. Dann nahm sie Kontakt mit dem Vogel auf und holte ihn behutsam auf den Boden zurück. Sie streifte ihm die Haube über, hob ihn hoch (dankbar für Orains Handschuh, denn noch durch das Leder spürte sie die gewaltigen Krallen) und setzte ihn wieder auf den Block.
Während sie sich zum Aufbruch vorbereitete, dachte sie nüchtern an die weite Strecke, die noch vor ihnen lag. Sie wollte sich so nahe zu Orain halten wie möglich. Wenn Alaric sie allein fand… Mit Entsetzen dachte sie an die tiefen, breiten Abgründe, über die sie gestern geritten waren. Ein falscher Schritt, ein leichter Stoß, und sie wäre diesem Stein über den Klippenrand gefolgt, immer wieder
Weitere Kostenlose Bücher