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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zu geben, ein rollendes Auf und Ab aus Baumwipfeln. Aus den Tälern stieg Nebel auf, zerfaserte an seinen Rändern und formte Umrisse von Menschen.
    »Nebelfrauen«, flüsterte Tiessa.
    Faun wären sie nicht aufgefallen, hätte das Mädchen nicht darauf gezeigt. Oberhalb einiger Täler, umrahmt vom Graublau der benachbarten Waldhügel, bildete der Nebel Kolonnen aus wehenden Körpern, graue Umrisse von Frauen mit fließendem Haar und in weiten Gewändern. In langen Reihen zogen sie vorüber, wurden von sanften Winden über die Landschaft getragen. Hätten sie mehr Substanz besessen, hätte man sie für Trauernde halten können, die einem unsichtbaren Totenzug folgten.
    Faun blinzelte. Schon viele hundert Mal war sein erster Blick nach dem Aufwachen auf nebelverhangene Täler und Seen aus Morgendunst gefallen. Aber niemals hatte sich ihm ein Anblick wie dieser geboten.
    »Sie sind überall«, flüsterte Tiessa leise, so als fürchtete sie, ihre Stimme könnte die Gestalten vertreiben. »Die meisten Menschen sehen sie nicht, weil sie gelernt haben, dem Nebel und seinen Formen zu misstrauen. Aber wenn du sie wirklich sehen willst …«
    »Was sind sie?«, fragte Faun. »Geister? Teufelsspuk?«
    »Nichts davon. Niemand muss sie fürchten. Wenn die Sonne höher steigt und die Täler berührt, verschwinden sie. Vielleicht kehren sie morgen früh zurück. Oder auch nicht.«
    »Warum habe ich sie früher nie gesehen?«
    »Weil du nicht hingeschaut hast. Nicht so, wie du es jetzt tust.«
    Die langen Kolonnen der Dunstgeschöpfe schwebten von Tal zu Tal, von einem Nebelteich zum nächsten. Sie schienen aus dem zerfasernden Rand des Gewölks zu wachsen, genau dort, wo sich die Schleier auflösten und den Blick auf das Gebirge freigaben.
    »Dann und wann verlieben sich Nebelfrauen in sterbliche Männer«, erzählte Tiessa. »Aber sie sind dazu verdammt, niemals wahre Liebe zu erfahren. Manchmal zeigen sie sich einem Mann im Morgengrauen, und dann kann es sein, dass sie in der Nacht heimlich bei ihm gelegen haben, obwohl er sie schon fast vergessen hat. Sie können niemals ihm gehören, und er niemals ihnen.«
    Faun hatte schon viele solcher Geschichten gehört – tragische Mären über Geister, die ihr Herz an Sterbliche verloren –, aber diese berührte ihn mehr als jede andere zuvor. Es mochte an diesem Ort liegen, dieser grandiosen, urgewaltigen Landschaft und ihren geheimnisvollen Nebellöchern, an Tiessas trauriger Stimme oder an der Tatsache, dass er spürte, wie sie ihn von der Seite her ansah und er doch nicht wagte, sich zu ihr umzuschauen.
    Sie tastete nach seiner Hand. Er spürte ihre Finger zwischen seinen und war mit einem Mal froh, dass sie aus Fleisch und Blut und nicht aus Nebel war und dass sie sich warm anfühlte und bei ihm war und sich nicht beim ersten Sonnenstrahl in Luft auflösen würde.
    So standen sie lange da und sahen zu, wie das Morgenlicht über die Wälder kroch, die Nebelfrauen immer durchscheinender und verschwommener wurden und schließlich ganz vergingen. Der Sonnenschein über den Wipfeln vereinte sich mit jenem an den fernen Gebirgshängen, der Dunst versickerte im Unterholz. Der Tag vertrieb die Schatten der Nacht.
    Sie zogen sich ins Dickicht zurück, wickelten sich in ihre Decken und schliefen bis zum Nachmittag. Dann tränkten sie die Pferde an einem schmalen Bachlauf, aßen von ihren spärlichen Vorräten und machten sich bei Einbruch der Dämmerung erneut auf den Weg.
    Zwei Nächte später erreichten sie die Berge.
    Die Spuren der Kreuzfahrerinnen waren jetzt nicht mehr zu übersehen. Mittlerweile mussten es Hunderte sein, und ihre Lager nahmen gewaltige Flächen ein. Die Wiesen, auf denen sie ihre Zelte aufgeschlagen hatten, waren auch Tage später noch zertrampelt und zerfurcht. Feuerstellen gab es im Übermaß, schwarze Löcher im Gras und in Felsensenken. Auch die Bewohner der armseligen Gehöfte und Dörfer wussten Geschichten über sie zu erzählen, manche Familie hatte Töchter verloren, die sich dem Zug der Mädchen angeschlossen hatten. Die Magdalena und ihr Gefolge schlugen eine Schneise aus Bitterkeit und Trauer durch die Lande, und hier im Gebirge, wo die Armut noch größer war, standen ganze Familien vor dem sicheren Untergang. Dabei schienen die Kreuzfahrerinnen und ihre bewaffneten Begleiter keine vorsätzlichen Schäden anzurichten, und es hieß, sie zahlten gut für Nahrungsmittel. Doch die Menschen ernteten hier kaum genug für sich selbst, geschweige denn für ein

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