Herrin der Lüge
reichte es Faun.
Es war ein handgeschriebener Text, zehn oder fünfzehn Zeilen, und darunter fünf Namenszüge und fünf Siegel.
»Ich kann nicht lesen«, sagte er.
Tiessa lächelte. »Ich auch nicht. Aber ich weiß trotzdem, was da steht.«
»Und?«
Sie nahm das Pergament zurück und strich es auf ihrem nackten Bein glatt, gedankenverloren und länger, als nötig gewesen wäre. »Vor acht Jahren hat eine Gruppe von Männern einen Pakt geschlossen. Mein Vater war einer von ihnen. Sie haben sich im Geheimen getroffen, um einen Vertrag zu unterzeichnen.« Sie klopfte mit dem Fingerknöchel auf das Pergament. »Darin beschlossen sie, gemeinsam einen Kreuzzug ins Leben zu rufen – ein Kreuzfahrerheer, von dem alle Welt denken sollte, es werde gegen die Sarazenen ziehen und Jerusalem aus der Hand der Ungläubigen befreien. In Wahrheit aber diente es einem anderen Zweck.« Sie machte eine Pause, konnte ihm aber noch immer nicht in die Augen sehen. Ihre Geschichte klang wie auswendig gelernt. »Die Kreuzfahrer sollten ohne ihr Wissen benutzt werden, um das byzantinische Reich zu zerschlagen. Von Anfang an war das wahre Ziel, Konstantinopel zu erobern und dem Erdboden gleichzumachen. Jeder der Männer, die diesen Vertrag unterzeichnet haben, hatte persönliche Gründe, sich auf dieses Unternehmen einzulassen. Mit dabei war der Doge von Venedig, Enrico Dandolo, der den Byzantinern ihre Handelsmacht im Mittelmeer neidete. Graf Bonifaz von Montferrat« – sie deutete auf ein zweites Siegel – »sollte wiederum den Kreuzzug anführen, was seine Stellung im Kaiserreich erheblich stärken würde. Für ihn ging es einzig um Machtgewinn, ganz gleich, was dazu nötig war. Der dritte Mann war ein Mann der Kirche – der Bischof von Prag und direkter Abgesandter des Heiligen Stuhles.«
Faun, der schweigend zugehört hatte, sah auf. »Ein Abgesandter des Papstes? Was hätte der für einen Grund gehabt haben sollen, solch einen Vertrag zu unterzeichnen?«
»Das Ostchristentum in Byzanz lag mit dem Heiligen Stuhl seit Jahrhunderten im Streit. Für die östlichen Christen war Konstantinopel das, was für uns Rom ist – der Sitz ihrer höchsten Priesterschaft –, und den Papst haben sie nie als Oberhaupt anerkannt.«
»Und für deinen Vater?«, fragte Faun.
»Mein Vater war als Gastgeber des geheimen Treffens ausgewählt worden, weil« – sie zögerte – »weil keiner der anderen Männer etwas gegen ihn einzuwenden hatte, nehme ich an. Er hat nie mit mir darüber gesprochen. Aber weil er anwesend war wie die anderen und das Abkommen bezeugen sollte, musste auch er Namen und Siegel unter den Vertrag setzen.«
Faun deutete mit einem Nicken auf das Pergament. »Und wer ist der fünfte?«
»Ich weiß es nicht. Mein Vater hat es mir nicht gesagt, und ich kenne das Siegel nicht. Wahrscheinlich einer der anderen Führer des Kreuzzuges, ein Untergebener von Bonifaz von Montferrat. Oder ein zweiter Kirchenmann. Wer weiß.«
»Dein Vater ist gestorben, hast du gesagt.«
Tiessa nickte. »Vorher hat er mir das Pergament gegeben. Ich dürfe es niemandem zeigen, hat er gesagt. Nach seinem Tod würden vielleicht Männer auftauchen, die danach suchten, aber sie dürften es nicht finden. Es gab fünf Abschriften davon, jede mit allen fünf Siegeln und Namen versehen. Das hier ist die einzige, die noch existiert, hat mein Vater behauptet. Der einzige Beweis für das, was an jenem Tag beschlossen worden ist: die gesamter Christenheit mit einer Lüge in die Irre zu führen und für einen Krieg gegen Konstantinopel zu missbrauchen, der in Wahrheit nur im Interesse von einigen wenigen lag.«
Faun neigte den Kopf. »Heißt das, diese Männer, die dich verfolgen, sind vom Papst ausgesandt worden? Oder vom Dogen? Oder diesem … Bonifaz von Montferrat?«
»Ja und nein. Es sind Männer meines Vaters. Sie haben in seinen Diensten gestanden. Der eine war unser Falkner und mein Lehrer. Aber sie sind gekauft worden, von einem der vier anderen Verschwörer oder von allen gemeinsam. Woher soll ich das wissen? Jedenfalls wollen sie diesen Vertrag an sich bringen.«
»Deshalb bist du also von zu Hause fortgelaufen.«
»Ja«, sagte sie leise.
»Aber warum der Kreuzzug? Was willst du von Saga … von der Magdalena?«
»Wenn es ernst wird, hat mein Vater gesagt, wenn andere an seine Abschrift des Vertrages heranwollen, dann müsse ich das Pergament an mich nehmen und damit verschwinden. Am besten sogar aus dem Kaiserreich. Als er starb, konnte er noch
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