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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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weiter weg als die anderen und war im trüben Morgenlicht, das durch die Laubdecke fiel, nur vage zu erkennen. Nebelschwaden wehten durch die Wälder und verschleierten die Sicht.
    »Das seid dann ihr beiden, oder? Du und Saga«, vermutete Tiessa.
    »Das war leicht, hm?« Er wollte sie mit seinem Lächeln anstecken, doch sie blieb ernst und rückte sogar ein wenig auf Distanz. »Saga und ich stehen weit weg von allen anderen. Am weitesten von meinem Vater. Schau dir seine Äste an. Sie greifen zu uns herüber, sind aber nicht lang genug. Sie berühren gerade einmal die Zweige meiner Schwestern.«
    »Faun?«
    »Was?«
    »Du bist verrückt geworden.«
    »Kann sein«, seufzte er. »Ist trotzdem ein seltsamer Zufall, oder? Ich bin nur hergekommen, weil ich nicht mehr liegen konnte und dich nicht wecken wollte. Plötzlich sehe ich diese Bäume. Und alles ist sofort ganz klar. Ich hab die Entfernungen abgemessen, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Ich wusste auch so, dass die Verhältnisse zueinander irgendwie … stimmen.«
    Sie bewegte sich in der Hocke vor ihn und versperrte damit seinen Blick auf die Bäume. Dann nahm sie sein Gesicht in beide Hände – sie fühlten sich kühl an und sehr sanft – und blickte ihm fest in die Augen. »Es wird Zeit, dass du deine Schwester wieder siehst, weißt du das?«
    »Hast du dir den Baum mit den beiden Stämmen mal genau angesehen?«
    »Nein«, sagte sie betont. »Und warum auch? Es ist ein Baum!
    »Der eine Stamm stirbt ab. Er ist voll mit Pilzen und Flechten. Die Rinde fällt schon ab.«
    Sie schloss für einen Atemzug die Augen. »Und«, fragte sie, »wer von euch beiden ist das? Du? Oder Saga?«
    Er schüttelte den Kopf und spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich Saga finden muss. Sie ist meine Zwillingsschwester. Aber mit jedem Tag, der vergeht, kommt es mir vor, als wären wir weniger … weniger eng verbunden. Anders kann ich es nicht beschreiben.«
    Sie sah ihn nur an, aber plötzlich mit dem Anflug eines Lächelns um ihre roten Lippen.
    »Was ist?«, fragte er.
    Sie entspannte sich und ließ sich wieder vor ihm auf die Knie sinken. »Als mein Vater gestorben ist, da habe ich mir geschworen, ihn niemals zu vergessen. Nichts, keine Einzelheit … Und heute, ein paar Jahre später, kann ich mich kaum mehr an sein Gesicht erinnern.«
    Er nickte. Genau das war es. »Aber warum ist das so?«
    »Weil es nicht wichtig ist, wie er ausgesehen hat. Überhaupt nicht wichtig. Alles andere ist wichtig, das, was von ihm noch hier drin ist« – sie zeigte auf ihren Kopf, dann auf ihre Brust – »und hier drin.« Unvermittelt streckte sie die Hand aus und streichelte seine Wange. »Saga ist immer noch in dir, genau wie vorher. Und ob du dich nun an ihr Gesicht erinnern kannst oder nicht … es ist egal. Was du fühlst, ist wichtig, nicht was du siehst.«
    Sie ließ ihm keine Gelegenheit zu einer Antwort, sondern stand wieder auf, bevor er nach der Hand an seiner Wange greifen und sie dort festhalten konnte. »Komm mit«, sagte sie. »Ich bin dir nachgegangen, weil ich dir etwas zeigen wollte. Aber wir müssen uns beeilen.«
    Er stand auf und konnte ein paar Herzschläge lang kaum stehen, so steif waren seine Knie geworden. Seine Unterschenkel waren eingeschlafen.
    »Mach schon!«, drängte sie ihn. »Sonst sind sie weg.«
    Die Art und Weise, wie sie von einer Stimmung zur nächsten wechselte, irritierte ihn wie so oft. »Wer?«
    Ohne eine Antwort zu geben, lief sie einfach los, und Faun folgte ihr mit schwankenden Schritten. Seine Muskeln und Knie erholten sich nur langsam, aber nachdem sie die halbe Strecke zu ihrem Lagerplatz zurückgelegt hatten, konnte er wieder laufen wie zuvor. Das letzte Stück bewältigten sie schneller, auch weil Tiessa ihn wieder und wieder zur Eile antrieb.
    Sie hatten den Schimmel und die Stute oberhalb eines Abhangs angebunden. Der Waldhügel fiel dort steiler und felsiger ab, die Bäume standen ein paar Schritt von der Kante entfernt. Unter ihnen lag das atemberaubende Panorama endloser Wälder im ersten Morgenlicht. Die Sonne stand in ihrem Rücken, verborgen hinter Baumwipfeln. Die Welt schien von einem wabernden Hellblau erfüllt. Weiter im Süden thronte das Gebirge oberhalb der Frühnebel, nur die höchsten Gipfel schimmerten im Gold des frühen Tages.
    Tiessa streckte die Hand aus. »Dort unten in den Tälern – kannst du sie sehen?«
    Für jede bewaldete Erhebung schien es auch eine Senke

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