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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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drückte. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass sie sich damit selbst verletzen könnte. Es fühlte sich gut an, überhaupt etwas zu besitzen, mit dem sie sich verteidigen konnte und von dem der Bethanier nichts wusste. –
    »Maria!«
    Sie hatte ihm ihren Namen verraten, als er sie kurz nach ihrem Aufbruch vom Hof danach gefragt hatte. Nun aber rief er ihn zum ersten Mal, seit sie sich diesen Wettlauf durch den Weidensumpf lieferten.
    Sie blickte nicht zurück, sondern stürmte los, tiefer in die Wildnis. Jetzt spürte sie seine Nähe, hörte ihn nicht nur, sondern hatte das Gefühl seiner Hände auf ihren Schultern, seines Atems in ihrem Nacken.
    Noch einmal wurde sie schneller, sprang über modriges Holz und rostiges Eisen, spürte zugleich, wie die uralte Klinge unter dem Kleid ihre Haut ritzte, und gab doch nicht auf.
    »Maria.«
    Kein Ruf mehr, sondern beinahe ein Flüstern.
    Sie stolperte über irgendetwas im Wasser, fiel mit einem Aufschrei nach vorn und sank mit Händen und Knien in den Schlamm. Das Oberteil ihres Kleides beulte sich aus, als der Dolch in den Stoff sackte. Sie hatte noch nie eine Waffe benutzen müssen, natürlich nicht, aber nun bekam sie einen Vorgeschmack, wie es war, einen anderen so zu hassen, dass man sei nen Tod wünschte.
    Der Bethanier nannte sie zum dritten Mal beim Namen, diesmal beschwörend.
    Da wusste sie, dass ihre Flucht zu Ende war.
    Mutlos drehte sie sich um, und da war er. Stand direkt hinter ihr, keine Armlänge entfernt. Sein schwarzes Rüstzeug war von oben bis unten mit Schlamm bespritzt; auch er war mindestens einmal gestürzt.
    »Willst du jetzt mein Herz essen?«, fragte sie wie betäubt.
    Der Bethanier schüttelte den Kopf. Seinen Helm hatte er beim Pferd zurückgelassen, aber er hatte noch immer die schwarze Samtkapuze hochgeschlagen. Sie war verrutscht und ließ Dämmerlicht auf seine hageren Züge fallen. Unter seinem Kinn war die Narbe zu sehen, die quer über seinen sehnigen Hals verlief. Zum ersten Mal fragte sie sich, wer das getan hatte und was wohl aus ihm geworden war.
    »Komm«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen.

Nebelfrauen
     
    Tiessa fand Faun tief im Wald. Er kniete am Boden, hatte das Gesicht gesenkt, als litte er Schmerzen, und tat, als bemerke er ihr Kommen nicht. Fußspuren führten durch das nasse Erdreich von ihm aus in mehrere Richtungen. Jeder dieser Pfade reichte bis zu einem anderen Baum. Wie es aussah, war er auch zwischen den einzelnen Stämmen hin und her gegangen.
    »Hat das, was du da treibst, irgendeinen Zweck?«, fragte sie skeptisch.
    »Hm hm«, machte er.
    »Erklärst du’s mir?«
    Er war schon vor einer ganzen Weile hierher gekommen. Die vergangene Nacht waren sie fast durchgeritten, und nun brauchten die Pferde dringend eine Rast. Von ihnen selbst ganz zu schweigen. Fauns Hinterteil schien nur noch aus Schmerz zu bestehen, die Innenseiten seiner Oberschenkel waren feuerrot, und durch den ständigen Druck der Zügel, die Tiessa beim Reiten so locker in den Fingern hielt, hatten sich Blasen an seinen Händen gebildet. Er war kein guter Reiter, und im Augenblick sah es nicht danach aus, als würde in absehbarer Zeit einer aus ihm werden.
    Tiessa kam herüber und ging neben ihm in die Hocke. Verwundert blickte sie auf die Abdrücke, die seine Füße im Waldboden hinterlassen hatten. »Wie oft bist du zwischen diesen Bäumen hin und her gelaufen?«
    »Ein paar Mal.«
    »Und warum?«
    »Ich hab die Abstände gemessen.« Er deutete auf Striche vor ihm am Boden, die er mit einem Ast ins Erdreich gekratzt hatte.
    Sie sah ihn aus großen Augen an, und erst jetzt bemerkte er ihre Sorge.
    »Ich bin nicht verrückt geworden«, sagte er. »Keine Angst.«
    »Sieht aber ganz danach aus.«
    Er deutete auf die Bäume. »Das da ist meine Familie.«
    »Deine Familie«, wiederholte sie tonlos. »So.«
    Faun nickte. »Der Baum da vorn, die Eiche, das ist mein Vater. Meine Mutter steht ein ganzes Stück dahinter. Die Buche, siehst du? Du musst dich vorbeugen, um sie von hier aus zu sehen. Sie ist genau hinter ihm.«
    Tiessa folgte zögernd seinem Blick.
    »Und das da vorn, die drei kleinen Bäume, sind meine jüngeren Schwestern. Sie stehen genau zwischen den beiden, aber ein bisschen näher bei meiner Mutter.« Er sprach sehr ruhig und überlegt. Für ihn ergab das alles einen Sinn. »Und dann noch der Baum da drüben, der sich ungefähr einen Fuß über dem Boden gabelt und zwei Stämme hat. Siehst du den?«
    Der Baum stand

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