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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Zukunft vorsichtiger zu sein.
    Während ihres Auftritts in der Schänke von Thusis saßen an einem Tisch sechs Männer in zusammengestückeltem Rüstzeug, zu denen alle anderen merklichen Abstand hielten. Es gehörte nicht viel dazu, sich auszurechnen, dass es sich bei ihnen um Gefolgsleute des Ritters von Rialt handelte. Alle sechs waren ungepflegt und hatten mehr Ähnlichkeit mit Wegelagerern als mit Soldaten einer Burgwache, und ihr Anblick verhieß nichts Gutes über die Gepflogenheiten im Hause Hoch Rialt. Ihre Augen hingen an Tiessa, als sie zwischen den Tischen tanzte, und Faun spürte selbst dann noch ihre Blicke, als der Wirt knauserig ein paar Münzen abzählte, um das junge Gauklerpaar für seine Dienste zu entlohnen. An diesem Abend nahm er ein Vielfaches ihres Lohns durch Bier und Essen ein, doch die Kammer, die er den beiden zur Verfügung stellte, war die kleinste und gewiss auch die schmutzigste im Haus.
    Durch einen Spalt zwischen den Fensterläden beobachtete Faun spät am Abend, wie die sechs Männer des Herrn von Hoch Rialt auf ihre Pferde stiegen und ins Dunkel davonpreschten. Eine Weile später hörte er ihre trunkenen Stimmen und das Hufgetrampel ihrer Pferde von den Steilhängen widerhallen.
    »Sind sie fort?«, fragte Tiessa hinter ihm. Sie saß im Schneidersitz auf der Strohmatratze ihres Bettes. Die schmuddelige Decke hatte sie zu Boden geworfen, aus Angst vor Ungeziefer.
    »Sieht so aus.« Faun kehrte zu seinem eigenen Bett zurück, das von ihrem durch einen schmalen Durchgang getrennt war.
    Er musste sich zwingen, Tiessa nicht anzustarren. Sie hatte ihre Hose abgelegt und ließ sie in einem Bottich mit Wasser einweichen. Ihr nackten Beine glänzten im Schein der Talgkerze. Sie hielt ihr Bündel im Schoß, und er war nicht sicher, ob sie darunter noch etwas trug.
    Wohl kaum, flüsterte es in ihm.
    Sein Fuß stieß gegen einen hölzernen Nachttopf, der von einer ekelhaften Kruste am Boden festgehalten wurde; der Tritt brach ihn los und ließ ihn davonschlittern. »Wir hätten draußen übernachten sollen«, sagte er angewidert. Dabei war er selbst derjenige gewesen, der aus Gründen ihrer Sicherheit darauf bestanden hatte, den überteuerten Preis für diese Kammer zu bezahlen.
    »Wir müssen morgen früh dort rauf«, sagte sie bedrückt. »Hast du ihre Blicke bemerkt?«
    Er nickte.
    »Ich hab mit einer der Mägde gesprochen. Sie hat gesagt, es sei gefährlich in der Via Mala. Viele sind nicht von dort zurückgekehrt.«
    »Teufelsspuk und Geister«, seufzte er. »Darin zumindest scheinen sich alle hier einig zu sein. Aber seit dieser Bäuerin hat keiner mehr ein schlechtes Wort über Achard von Rialt verloren. Kommt dir das nicht auch seltsam vor?«
    »Er ist ihr Lehnsherr«, entgegnete sie mit einem Schulterzucken. »Was erwartest du von ihnen?«
    »Diese Kerle vorhin sahen jedenfalls nicht aus, als wäre der Herr der Schlucht ein ehrenwerter Mann.«
    Sie begann in dem Bündel zwischen ihren nackten Schenkeln zu kramen, bis sie die alte Stoffpuppe fand und unschlüssig in der Hand hielt. Faun sah sie an und verspürte einen heißen Stich in der Brust. Aus irgendwelchen Gründen bedeutete ihr diese Puppe ungeheuer viel, und mochte er sie auch kindisch finden, so ging ihm der Anblick doch zu Herzen. Zugleich bot das zerschlisssene Kinderspielzeug einen grotesken Gegensatz zur Weiblichkeit von Tiessas Körper, die ihm nie so bewusst gewesen war wie in diesem Augenblick.
    »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte sie unvermittelt. Sie öffnete zwei Knöpfe auf dem Rücken der Puppe, streifte ihr das grob gewebte kleine Wams ab und zog zu Fauns Erstaunen einen Keil aus dem Holzkörper. Sorgfältig legte sie ihn neben sich, ruckelte am Kopf der Puppe und konnte ihn jetzt ohne Mühe abziehen. Während Faun mit wachsender Neugier zusah, drehte sie die kopflose Figur herum und schüttelte eine Pergamentrolle aus dem offenen Hals. Sie musste die ganze Zeit über im Inneren der Puppe verborgen gewesen sein.
    Faun beugte sich vor. »Was ist das?«
    »Etwas, über das du Bescheid wissen solltest.« Sie legte die Puppe beiseite und öffnete das Band, das die Rolle zusammenhielt.
    »Sag nicht, es ist das, was die Ritter suchen.«
    Sie wich seinem Blick aus. »Sie suchen mich – und das hier.«
    Das Pergament knisterte, als Tiessa es auf einem ihrer Oberschenkel entrollte. Es schien lange nicht geöffnet worden zu sein, denn das Material war steif geworden und gab nur widerwillig nach. Sie drehte es um und

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