Herrin der Lüge
gerade das machte ihr Hoffnung.
Oder, nein, Hoffnung war etwas anderes. Sie hoffte nicht mehr, folgte mehr oder minder ihren Instinkten, angetrieben von der Vorstellung, was da hinter ihr herankam, immer näher.
Näher? Sie hörte ihn nicht mehr, selbst dann nicht, wenn der Boden an manchen Stellen trockener wurde und sie über das Hämmern ihres Herzens hinaushorchte. Vor dem Stamm einer Weide fuhr sie herum.
Die Zweige pendelten hierhin und dorthin, ein geisterhaftes Wippen und Wogen. Über den Kronen leuchtete Tageslicht, ein heller, blauweißer Sommerhimmel. Unter den Kuppeln aus Ästen und Laub herrschte dämmeriges Halblicht. Jenseits der vorderen Weidenvorhänge, wo sie in zwei, drei Lagen übereinander hingen, wurde aus Düsternis Schwärze. Irgendwo dort mochte er sein.
Etwas blitzte, nicht weit entfernt. Ein verirrter Sonnenstrahl brach sich auf einer silbernen Sichelschneide. Einen Atemzug lang glühte die Klinge in den Schatten wie ein Mond.
Maria schluckte lautlos, kam aber nicht gegen den Kloß in ihrem Hals an. Langsam schob sie sich mit dem Rücken um den Baumstamm, bis er sich zwischen ihr und der Stelle befand, an der sich das Licht gebrochen hatte. Schultern und Handflächen fest an die Rinde gepresst, blieb sie stehen, hielt jetzt den Atem an, hätte am liebsten sogar ihr Herz gestoppt. Der Bethanier musste hören, wie es gegen ihren Brustkorb schlug, als wollte es ihn herbeilocken, damit die ungestüme Flucht ein Ende hatte.
Nun hörte sie wieder seine Schritte. Schwere Stiefel im Wasser. Wenn die sumpfige Brühe über die Ränder des Leders schwappte, würde ihn das zusätzlich behindern. Ohnehin musste sein Rüstzeug eine erhebliche Last sein. Aber er war stark, viel stärker als ein gewöhnlicher Mann.
Sie gab sich einen Ruck, stieß sich von dem Weidenstamm ab und hastete los.
Sie huschte jetzt von Stamm zu Stamm, hielt immer wieder an, versuchte etwas in ihrer Umgebung zu erkennen. Jedes Mal wenn sie glaubte, sie hätte ihn vielleicht abgehängt, hörte sie in irgendeiner Richtung das Kettenhemd klirren oder die saugenden Laute des Sumpfs um seine Stiefel. Sie war erschöpft und verzweifelt, aber sie geriet nicht in Panik. Irgendetwas hielt sie bei Vernunft, ein Panzer, der sich schützend um ihren Geist gelegt hatte.
Gerade drückte sie sich erneut durch einen Peitschenvorhang, als ihr Fuß im knöchelhohen Wasser an etwas hängen blieb. Mit einem hellen Stöhnen verlor sie das Gleichgewicht und schlug der Länge nach in den Schlamm. Kurz war ihr Gesicht unter Wasser, sie bekam die brackige Brühe in die Nase und rollte sich planschend herum. Hastig sprang sie auf, schaute sich um – und erkannte, woran ihr Fuß sich verhakt hatte.
Ein rostiger Brustpanzer ragte wie eine Schildkröte aus dem Sumpfwasser. Die Feuchtigkeit hatte ein Loch hineingefressen, Moos schillerte an den Rändern. Aber das Ding war eindeutig Teil einer Rüstung gewesen.
Bebend schaute sie sich um. Überall um sie herum, bis zum nächsten Weidenvorhang und wahrscheinlich darüber hinaus, waren alte Eisenteile im Sumpf verstreut. Die meisten waren fast vollständig versunken, aber manche lagen noch weit genug an der Oberfläche, um ihren ursprünglichen Zweck zu verraten.
Einst hatte hier eine Schlacht stattgefunden.
Maria tastete sich weiter, jetzt vorsichtiger, um nicht erneut zu stolpern. Mit zitternden Händen schob sie die Zweige beiseite und trat unter die benachbarte Weidenkuppel. Auch hier war der Boden übersät mit Rüstzeug. Da steckte ein rostiges Schwert in einem Baumstumpf. Anderswo ragte der Stiel eines Kriegsbeils aus dem Schlamm, um sofort zu zerfallen, als Marias Fuß ihn streifte. Sie stolperte erneut, hielt sich mit links an einem Bündel Zweige fest und patschte mit der rechten Hand ins Wasser. Ihre Finger griffen in weichen Morast, stießen auf Widerstand, zogen beim Auftauchen etwas mit sich aus der schwarzen Brühe.
Es war ein rostiger Dolch, selbst in Marias Hand noch eine kleine Waffe; jemand musste ihn als letzte Reserve im Stiefel oder am Körper getragen haben. Das Leder, das einst um den Griff gewickelt war, quoll als vermoderter Brei zwischen ihren Fingern hervor. Das Eisen selbst aber hatte der Nässe standgehalten. Klinge und Kreuzstange waren mit Rost überzogen und die Schneiden stumpf; die Spitze aber hatte noch genug Biss, um sich in einen Körper zu bohren. Ohne nachzudenken, schob Maria sich die Waffe unters Kleid, wo sie eiskalt und sperrig gegen ihren Oberkörper
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