Herrin der Lüge
paar hundert Fremde, und so machten andere die Geschäfte mit den Frauen: Landeigner, gut betuchte Händler und die Herren der einsamen Burgen.
Manch einer hatte die Magdalena mit eigenen Augen gesehen, und die Beschreibungen stimmten ein ums andere Mal mit Saga überein. Faun wusste, dass Tiessa längst keinen Zweifel mehr daran hatte, dass seine Schwester die Magdalena war. Nach außen hin weigerte er sich, daran zu glauben, doch tief im Inneren begann seine Abwehr zu bröckeln. Insgeheim akzeptierte er die Wahrheit. Er fragte sich, ob Saga bewusst war, was sie anrichtete. Sie raubte diesen Menschen die Töchter, Schwestern und Bräute, und je länger er darüber nachdachte, desto zorniger wurde er.
Sie näherten sich dem Ende eines breiten Tals, durch das der Rhein einen schmalen Lauf gegraben hatte. Zu beiden Seiten erstreckten sich weite Uferwiesen, flankiert von den bewaldeten Berghängen, die sich weiter oben zu graubrauner Felsenödnis auftürmten. Die schiere Größe dieser Giganten überwältigte ihn und raubte ihm auch nach mehreren Tagen noch den Atem. Schließlich begann er, sie als das zu sehen, was sie waren: Falten, die das Land zum Himmel hin aufgeworfen hatte. Keine denkenden, lebenden, bedrohlichen Riesen, sondern nur Stein. Das half ihm, die Scheu vor ihnen zu verlieren, und in manchen Momenten erschienen sie ihm beinahe schön in ihrer zu den Sternen strebenden Majestät.
Das Rheintal endete vor steilen Hängen, die von einer schroffen, unwirklichen Kluft gespalten wurden. Inmitten ihres Zugangs erhob sich ein bewaldeter Felsklotz, über dessen Kuppe eine Festung wachte, ein winziger Fleck vor dem Ehrfurcht gebietenden Gebirgspanorama. Auf den Höfen, unten im Tal, erzählte man ihnen von der Burg Hoch Rialt und dem Ritter Achard, der dort residierte. Sie erfuhren auch vom Aufstieg der Kreuzfahrerinnen und ihrem Weiterzug in die Schlucht, die jenseits der Burg durch die Berge schnitt. Via Mala nannten die Einheimischen diese Klamm, und als Faun wissen wollte, was dahinter lag, erzählte man ihm von einem hohen Pass, auf dem die Luft so dünn wurde, dass die Reise dort entlang schon manchen den Verstand gekostet hatte.
Und von noch etwas hörten sie nun zum ersten Mal: von sonderbaren Erschütterungen, die im Boden zu spüren waren, seit der Kreuzzug die Schlucht passiert hatte. Von Erdrutschen und Lawinen und tiefen Rissen im Gestein, so als hätte sich das Gebirge selbst gegen den Durchzug der Frauen wehren wollen.
»Gebt Acht, wenn ihr um Einlass in die Via Mala bittet«, raunte ihnen eine alte Bäuerin zu, die zu gebrechlich und müde war, um die Mächte dieser Burg noch zu fürchten. »Der Ritter von Rialt ist ein teuflischer Mann, und grausam sind seine Schergen. Ihr solltet nicht zu ihnen gehen, wenn ihr nicht unbedingt müsst. Doch wenn ihr den Bösen Weg durchqueren wollt, bleibt euch keine andere Wahl, denn Achards Männer wachen mit den Augen ausgehungerter Adler über den Zugang zur Klamm.«
Mit solcherlei Warnungen in den Ohren kamen sie nach Thusis, dem letzten Dorf im Tal. Der Ort sah aus, als wäre er in alter Zeit von eben jenen Felsen gestürzt, die ihn nun so bedrohlich überragten, eine Ansammlung ärmlicher Hütten, achtlos in die Landschaft gestreut.
Sturm, Tiessas Falke, schwebte in schwindelerregender Höhe vor der grauen Gipfelkette, als wollte er die Umgebung der Burg und das Tor zur Schlucht für sie ausspionieren.
In einem Gasthof quartierten sie sich für ihre letzte Nacht vor der Via Mala ein und bezahlten ihre Zeche mit Musik und Tiessas Tanz. Faun war dagegen, aber das Geld aus Tiessas Beutel war schon vor einigen Tagen zur Neige gegangen, und sie hatte ihm klar gemacht, dass sie nur so genügend Geld zusammenbekommen würden, um sich die nötige Verpflegung und i dann und wann ein richtiges Bett zu leisten. Auf das Bett hätte er verzichten können, doch er hatte einsehen müssen, dass es zu gefährlich war, sich allein durch seine Diebeskünste mit Essen zu versorgen. Die Bedrohung durch ihre vier Verfolger war groß genug; zusätzlich eine Spur bestohlener, aufgebrachter Bauern zu hinterlassen hätte ihre Lage nicht eben angenehmer gemacht. Widerwillig musste er eingestehen, dass Tiessa Recht hatte. Sie schien sich nicht bewusst zu sein, wie aufreizend ihr Tanz zuweilen wirken konnte, erst recht auf betrunkene Zecher in aufgepeitschter Stimmung. Als er mit ihr darüber sprach, war sie erstaunt, aber auch ein wenig geschmeichelt, und versprach ihm, in
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