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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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entdeckt hatte oder nicht. Sicher, das Schlachtross wurde jeden Abend abgesattelt, die Taschen und Waffenbündel heruntergenommen. Aber Maria hatte den Dolch so tief in eine Tasche gesteckt, dass er nur auffallen konnte, wenn der gesamte Inhalt geleert wurde. Sie hatte den Bethanier tagaus, tagein dieselbe Kleidung tragen sehen, und so bezweifelte sie, dass er überhaupt je einen Blick in das Bündel mit Stoffen warf, das aus Gründen, die nur er kannte, an seinem Sattel hing.
    Tiefer grub sie ihre Hand hinein, weit vorgebeugt im Sattel.
    Das Gatter knirschte, als es über einen Stein am Boden schrammte. Der Bethanier hob es an, um dem Hindernis auszuweichen.
    Marias Finger berührten etwas. Hart. Rund. Der Knauf am Griff des Dolches! Also war die Waffe noch da.
    Gerade noch rechtzeitig, bevor der Bethanier sich umdrehte zog sie den Arm wieder aus der Tasche und richtete sich im Sattel auf. Gedankenschnell setzte sie den leeren Blick auf, mit dem sie ihn stets bedachte, wenn er in ihre Richtung schaute. Als würde sie durch ihn hindurchsehen. Mittlerweile hatte sie Übung darin.
    Der Bethanier schwang sich hinter ihr aufs Pferd. Leder knirschte, das Schlachtross schnaubte leise. Es setzte sich in Bewegung und trabte an dem Gatter vorüber. Maria erwartete, dass der Bethanier es offen stehen lassen würde – er tötete Menschen, was bedeutete ihm da das Vieh einiger Hirten? –, doch der schwarze Koloss ließ das Pferd anhalten, glitt zu Boden, zog das Gatter hinter ihnen zu und verknotete sorgfältig den Strick, der es geschlossen hielt.
    Manchmal war er sonderbar. Sie hätte schwören mögen, dass er das nur um ihretwillen tat. Er hatte das Gatter geschlossen, weil sie zusah. Als wollte er, so bizarr das erschien, kein schlechtes Vorbild für sie abgeben.
    Er sagte kein Wort, als er wieder hinter ihr Platz nahm und das Pferd zu schnellem Trab antrieb.
    Zu beiden Seiten zog eine karge Landschaft aus Anhöhen und weißen Felsen vorüber. Rechts von ihnen wurde das Land immer flacher, und als die Sonne an diesem Mittag am höchsten stand, glaubte Maria am Horizont ein silbriges Funkeln auszumachen. Es erstreckte sich über viele Meilen, eine funkelnde, leuchtende Linie.
    »Das Meer«, brach der Bethanier das Schweigen. Seit sie das Gatter passiert hatten, waren mehrere Stunden vergangen.
    »Was ist das?«, fragte Maria.
    Er neigte den Kopf ein wenig, ohne sie über die Schulter anzusehen. »Wasser. Eine ganze Menge davon.«
    »Mehr als in den Sümpfen?«
    »Genug Wasser für tausend mal tausend Sümpfe.«
    Sie machte ein abfälliges Geräusch. »Du lügst mich an.«
    »Warum sollte ich das tun?«
    Warum hast du meine Familie ermordet? Aber das fragte sie nicht.
    »Auf dem Meer fahren Boote.« Aus irgendeinem Grund schien ihm plötzlich nach Reden zumute. »Du weißt doch, was Boote sind?«
    »Ich bin nicht dumm.«
    Er schnaubte leise, und erst nach einigen Herzschlägen wurde ihr klar, dass dies sein Lachen war. Der Bethanier hatte noch nie gelacht. »Nicht solche Boote wie auf den Flüssen in deinem Sumpf. Große Boote. Groß genug, dass ein paar hundert Menschen darauf Platz finden.«
    Ein paar hundert! »Bist du auf so einem schon mal gewesen?«
    »Sicher.«
    »Wohin hat es dich gebracht?«
    »In eine Stadt voller Feuer und Blut. In ein sterbendes Reich voller Lügen und falscher Heiliger.«
    »Warum sollte jemand dorthin wollen?«
    Wieder dieses leise Lachen, kaum mehr als ein scharfes Ausstoßen der Atemluft. »In der Tat. Warum? Darauf weiß ich keine Antwort.«
    Stumm ritten sie ein Stück weiter, aber die Worte des Bethaniers ließen Maria keine Ruhe. »Was für eine Stadt ist das gewesen?«
    Er zögerte kurz. »Konstantinopel. Früher einmal war das die schönste Stadt der Welt.«
    »Und warum hat sie gebrannt?«
    »Weil wir sie angezündet haben.«
    Natürlich. »Warum zündest du etwas an, das du schön findest?«
    »Jemand hat mir den Befehl dazu gegeben. Und ich habe gehorcht.«
    »Warum hast du –«
    Er fiel ihr ins Wort. »Gold.«
    Das klang, als wollte er nicht, dass sie weiterfragte. Maria selbst hatte noch nie ein Goldstück gesehen, doch sie wusste sehr wohl, dass es manchen Menschen viel bedeutete. Man konnte Dinge dafür kaufen, Vieh und Nahrung und Medizin wenn man krank war. Ihr Vater und ihre Mutter hätten gerne Gold besessen, aber sie waren nicht unglücklich gewesen, nur weil sie keines gehabt hatten. Maria unterdrückte einmal mehr ihre Tränen.
    »Reiten wir jetzt auch irgendwohin, weil

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