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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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überfälligen Tribut. So kam es, dass Saga den Rest des Tages verschlief und erst am nächsten Morgen in ihrem Zimmer im erzbischöflichen Palast erwachte. Zofen bereiteten ihr ein Bad, aber sie hatte nur wenig Geduld dafür. Kaum war sie im Wasser, kletterte sie auch schon wieder hinaus, streifte ihre abgenutzten, aber frisch gewaschenen Sachen über und ließ das graue Büßergewand, das man zusätzlich für sie bereitgelegt hatte, mit einem Naserümpfen liegen.
    Sie verließ die Kammer, eilte zu Violantes Gemächern und klopfte. Niemand gab Antwort. Gerade wollte sie sich abwenden, als sich aus einer Tür gleich neben dem Zimmer der Gräfin eine Gestalt löste.
    Jorinde von Rialt blieb stehen, als sie Saga erkannte, und für einen Augenblick sah es aus, als wollte sie sich gleich wieder in ihr Gemach zurückziehen.
    »Warte«, bat Saga, ehe sie noch genau wusste, warum. »Lauf nicht gleich wieder weg.«
    Jorinde hatte während der gesamten Reise durch die Via Mala geschwiegen. Niemand fühlte sich für sie verantwortlich, obgleich die Gräfin einige Anstrengungen unternahm, sich mit der einzigen anderen Edeldame im Zug anzufreunden. Als sie aber bemerkte, dass Jorinde in sich gekehrt blieb, hatte sie ihre Versuche aufgegeben. Es war Saga überlassen geblieben, dann und wann zu Jorinde aufzuschließen und ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Ihre Geduld war auf eine harte Probe gestellt worden, während Jorinde ein ums andere Mal in Schweigen verfiel und nur das Allernötigste von sich gab.
    Die junge Frau mit dem hellblonden Haar trat auf den Gang hinaus. Im Gegensatz zu Saga und der Gräfin hatte sie sich während des Weges durch die Berge geweigert, etwas anderes als ein langes Kleid zu tragen. Sie hielt sich ungeheuer gerade, was bei ihr jedoch weniger imposant, als vielmehr erschrocken wirkte. Tatsächlich war dies der Eindruck, der Saga beim Anblick Jorindes immer als Erstes in den Sinn kam: Sie wirkte schreckhaft wie ein gehetztes Tier, jederzeit bereit, einen Schritt zurückzutreten und sich in Sicherheit zu bringen.
    Jetzt beugte sie demütig den Kopf. »Magdalena.«
    »Du kennst doch meinen richtigen Namen«, sagte Saga sanft. »Warum benutzt du ihn nicht?«
    »Ich dachte, du bist draußen im Lager. Ich sollte auch dort sein. Es ist nicht recht, dass ich besser behandelt werde als die anderen Mädchen.«
    »Du bist eine Frau von Adel, das macht einen Unterschied.«
    »Unter den vielen tausend dort draußen wird es wohl noch mehr hochgeborene Töchter geben, und trotzdem sind sie damit zufrieden, in einfachen Zelten zu wohnen.«
    Saga horchte überrascht auf. »Du warst dort? Im Lager?«
    Jorinde nickte. »Niemand hat mich bemerkt. Ich bin den ganzen Morgen allein umhergestreift und habe die Frauen beobachtet.«
    Nun schämte sich Saga. Während sie in einem weichen Bett im Schutz des Palastes den Morgen verschlafen hatte, war Jorinde draußen bei den Frauen gewesen – dort wo auch Saga hingehört hätte. Jorinde war nicht so ängstlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mochte. Oder aber eine Meisterin der Selbstbeherrschung.
    Sie schlenderten zu einem Erker. Im Halblicht eines trüben Glasfensters nahmen sie auf steinernen Bänken Platz. Jorindes weißes Kleid straffte sich über ihren Knien und offenbarte ein fein gesticktes Muster aus Goldfäden.
    »Denkst du oft an deinen Sohn?«, fragte Saga.
    Jorinde nickte. »Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht in Gedanken zu ihm spreche.«
    Aus dem Nichts überkam Saga heftiges Schuldgefühl. Wann hatte sie zum letzten Mal in Gedanken mit Faun gesprochen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Himmel, wann hatte sie vergessen, dass es ihr eigentlich um ihn gehen sollte? »Und«, fragte sie überstürzt, »gibt er Antwort?«
    »Nein.«
    »Achard wird schon auf ihn Acht geben.«
    »Eben das fürchte ich am meisten.«
    »Wie war dein Eindruck von den Mädchen auf der Reise?«
    Jorinde neigte den Kopf, als müsste sie erst darüber nachdenken. »Das alles ist ziemlich beeindruckend. Und es sollte uns wahrscheinlich große Angst machen.«
    Saga atmete auf. Endlich jemand, der genauso darüber dachte wie sie. »Es macht mir eine Heidenangst! Alle erwarten von mir, dass ich mich wie eine wahre Prophetin benehme – wie immer das auch aussehen mag. Dabei möchte ich mir am liebsten die Augen zuhalten und so tun, als wäre ich ganz woanders.«
    »Wir suchen uns unsere Stellung im Leben nicht aus. Und wir sind beide nicht freiwillig hier, oder?«
    »Nein, wohl

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