Herrin der Lüge
der Felsspalt enger wurde, aber wie durch ein Wunder blieb er unverletzt. Das Beben und Rumoren in den Tiefen des Gebirges hielt an, aber hier, in diesem engen Tunnel, der jetzt immer steiler aufwärts führte, ging kaum mehr als Staub nieder. Nur der Gestank folgte ihnen, suchte gemeinsam mit ihnen einen Weg ins Freie. Sie würden daran ersticken, wenn sie nicht schleunigst an die frische Luft gelangten.
Tiessa rief seinen Namen. Ihre Stimme überschlug sich.
Er blinzelte nach vorn, sah erst überhaupt nichts, dann eine Ahnung von Bewegungen. Der Umriss ihres Pferdes. Schließlich etwas, das Tiessa sein mochte. Und hinter alldem – ein milchiger Lichtstreifen!
Die Pferde bewegten sich noch schneller, und Faun hatte Mühe, Schritt zu halten. Hustend und würgend stolperten sie eine Geröllhalde empor und verließen inmitten einer Wolke aus Staub und Schwefelgestank den Berg. Ein Spalt, erschreckend schmal und selbst aus kurzer Entfernung fast unsichtbar, spie sie hinaus in das Licht einer trüben Morgendämmerung.
Faun hatte kaum Zeit, tief Atem zu holen, als ein infernalisches Donnern und Prasseln sie abermals aufschrecken ließ. Nur wenige Schritte zu ihrer Linken ging ein gewaltiger Erdrutsch nieder. Ein Felsüberhang sackte in die Tiefe und riss drei turmhohe Fichten mit in den Abgrund. Für Faun und Tiessa sah es aus, als stürze der Gipfel selbst den Berg hinunter. Ein Hagel aus Sand und kleinen Steinchen ging auf sie nieder.
Doch die Erdlawine verfehlte sie, krachte mit Getöse die Felswand hinab und stürzte weiter unten in das enge Flussbett. Das Wasser schoss hier viel schneller dahin als am Zugang der Schlucht. Schäumend weiß sprudelte es zwischen schwarzen Schieferwänden dahin. Nicht einmal der Erdrutsch vermochte es aufzuhalten.
Erst jetzt kam Faun dazu, sich umzusehen. Er war ganz benommen von dem, was da aus den Tiefen emporgewölkt war noch immer drangen die giftigen Dämpfe hinter ihnen aus dem Spalt und verhüllten die schroffe Landschaft mit einem gelblichen Schleier. Tiessa zitterte und hatte sichtliche Mühe mit ihrem Gleichgewicht.
Sie mussten fast das Ende der Via Mala erreicht haben und befanden sich unweit eines Weges, der entlang der Westwand der Schlucht nach Süden führte, gut zehn Mannslängen über dem Fluss. Unmittelbar vor ihnen führte eine Hängebrücke über den Abgrund, ein morsches Gebilde aus Seil und grauem Holz.
Der Pfad – und Faun zweifelte jetzt nicht mehr, dass es sich um den Hauptweg durch die Via Mala handelte – führte nach einer scharfen Biegung über die Brücke zur anderen Seite der Schlucht und verlief dort am Hang entlang nach Norden, zurück nach Hoch Rialt. Das war wohl der Weg, über den sie gekommen wären, hätte Elegeabal sie nicht durch die Höhlen geführt. Das wiederum bedeutete, dass Achard und seine Krieger diese Route benutzen mussten. Zweifellos waren sie längst vorbei und näherten sich bereits dem Pass, der weiter im Süden zur anderen Seite des Gebirges führte.
Der Wechsel von einer Seite der Kluft zur anderen wurde durch eine glatte Felswand erzwungen, die es Reisenden aus Richtung Norden unmöglich machte, ihren Weg an der Ostwand fortzusetzen. Faun war heilfroh, dass er und Tiessa sich bereits auf der Westseite befanden und nicht über die Brücke mussten; sie sah uralt und alles andere als Vertrauen erweckend aus.
Vielleicht hatten sie das Schlimmste hinter sich. Vor ihnen lag der Ausgang der Via Mala, dahinter der Pass, jenseits davon Italien. Und irgendwo dort, Saga und der Zug der Mädchen.
In Gedanken sah er Elegeabals Gesicht vor sich, wie es zurückblieb und in den Schatten des Berges ertrank. Ob der alte Mann noch am Leben war? Sie konnten nur hoffen, dass er es geschafft hatte.
»Er wusste, was er tat.« Tiessa legte ihre Hand auf seine. Sie schien zu ahnen, was ihm durch den Kopf ging. »Er wollte es so.«
Eine weitere Steinlawine kündigte sich durch ein heftiges Beben an. »Los, komm!«, rief Faun, zog sich mit schmerzenden Gliedern in den Sattel und sah aus dem Augenwinkel, dass Tiessa stehen blieb. Reglos blickte sie über die Schlucht hinweg zur Ostseite, den Weg entlang bis zu einer Mauer aus Fichten, die den Pfad nach Hoch Rialt verschluckte.
»Was ist?«, krächzte er mit tränenden Augen.
Sie schien ihren Blick widerwillig von etwas loszureißen, das er nicht sehen konnte. Für ihn wirkte dort drüben alles ganz friedlich, weit ruhiger jedenfalls als auf ihrer eigenen Seite, wo das Prasseln des Gesteins
Weitere Kostenlose Bücher