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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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immer lauter und die Abstände zwischen den Erdrutschen kürzer wurden.
    »Tiessa! Was ist los?«
    »Hörst du das nicht?«
    Er lauschte und nahm nichts wahr außer donnerndem Gestein, das jeden Augenblick den Weg und sie selbst verschütten konnte.
    »Stimmen!«, sagte sie. »Und Lärm!«
    Energisch schüttelte er den Kopf. »Wir waren zu lange da unten. Und die Schlucht ist nur ein paar Meilen lang. Achard und seine Leute müssen längst auf dem Weg zum Pass sein.«
    Tiessa gab keine Antwort und starrte wieder hinüber zur Ostseite. »Vielleicht.«
    »Komm jetzt, wir haben keine –«
    »Das klingt wie Spitzhacken. Und Hämmer.«
    Da plötzlich hörte auch er es: helle, schrille Laute, die sich dem Grollen des Berges widersetzten und immer deutlicher wurden.
    »Steig auf!«, presste er hervor. »Wir reiten los!«
    Diesmal gehorchte sie. Aber als sie im Sattel saß, ließ sie ihr Pferd verharren und blickte zurück nach Nordosten. Die Dämpfe verflüchtigten sich, doch ihre Wirkung saß Faun in den Knochen. Er fragte sich, ob Tiessa Dinge sah, die gar nicht da waren.
    »Sie sind aufgehalten worden«, sagte sie.
    Faun versuchte, den Schleier vor seinen Augen beiseite zu wischen, nur um festzustellen, dass sich das Gespinst mit Händen nicht greifen ließ.
    »Der Pfad ist verschüttet!« Tiessas Stimme überschlug sich mit einem Mal. »Sie müssen sich erst den Weg freiräumen!«
    Er wollte erneut widersprechen, lenkte dann aber unwillig die nervöse Stute neben Tiessas Schimmel und starrte durch Dämmerlicht und Dunstschwaden zu dem Fichtenhain hinüber.
    »Brav«, flüsterte er dem Pferd zu. »Ganz ruhig.«
    Da waren Stimmen. Grobe, ungehaltene Rufe. Derbe Kommandos. Verzerrte, hallende Flüche zwischen den Felswänden. Und, wirklich: heftiges Hämmern und Hacken, immer wieder unterbrochen von Poltern, wenn ein Gesteinsbrocken den Hang hinabgerollt wurde.
    »Die Brücke!«, entfuhr es ihm aufgeregt. »Vielleicht bleibt uns genügend Zeit …«
    Geschwind glitt er aus dem Sattel, zog den Dolch und rannte auf den Anfang der Brücke zu. Die Seile, die sie hielten und zugleich als Handläufe dienten, waren so dick wie sein Unterarm.
    »Das schaffst du nie mit einem Messer«, sagte Tiessa.
    Er setzte die Klinge an, auf der noch immer Reste des Hundebluts klebten, und begann, sägende Bewegungen zu vollführen.
    Nach kurzem Zögern eilte Tiessa neben ihn und machte sich mit ihrem eigenen Dolch an dem zweiten Seil zu schaffen. »Wie lange könnte sie das wohl aufhalten?«
    »Wenn es keinen anderen Überweg gibt?« Er zuckte die Achseln, während er verbissen immer heftiger an dem Hanftau schnitzte. »Lange genug, dass wir verschwinden können.«
    »Ein paar Stunden? Oder Tage?«
    Er schüttelte nur den Kopf und sägte weiter. Zu Anfang schien er kaum Aussicht auf Erfolg zu haben, aber dann bemerkte er, dass die Dolchklinge einen Fingerbreit in die grauen Fasern eingedrungen war.
    Sie konnten es schaffen.
    Nicht viel später sah Tiessa plötzlich auf. »Faun! Da drüben!«
    Während der letzten Minuten war aus dem Fichtendickicht ein ohrenbetäubendes Grollen ertönt. Felsbrocken waren zwischen den Stämmen hindurchgerollt und hinab ins Wasser gekracht. Einer hatte einen Baum entwurzelt, der jetzt kopfüber im Flussbett steckte, die Wurzel schräg an den Fels gelehnt. Die Strömung zerrte daran, bekam ihn aber nicht zu packen.
    Auf dem Weg zwischen den Bäumen und dem gegenüberliegenden Ende der Brücke waren mehrere Männer auf getaucht. Eine Rotte dunkler Gestalten, kaum zu erkennen in der Dämmerung. Immer mehr strömten jetzt hinter den Fichten hervor. Einige führten Pferde an den Zügeln.
    »Sie sind da!« Tiessa ließ das Messer sinken. »Wir müssen weg!«
    Faun schüttelte energisch den Kopf und beschleunigte seine Sägebewegungen. »Nicht … aufhören«, keuchte er. Er spürte seinen rechten Arm kaum noch, und das Atemholen brannte in seiner Kehle. Aber er würde jetzt nicht aufgeben. »Sie haben uns noch nicht gesehen.«
    »Das werden sie aber jeden Moment.« Trotzdem setzte Tiessa ihre Klinge wieder an. Sie kam langsamer voran als Faun, der bereits mehr als die Hälfte geschafft hatte. Blut klebte an der rauen Furche im Seil, und er erkannte seltsam gleichgültig, dass es sein eigenes war. Beim Sägen hatte er sich den Handballen aufgeschürft.
    »Wir müssen wenigstens die beiden oberen Seile schaffen«, presste er hervor. »Die anderen beiden am Boden werden die Brücke allein kaum halten.« Davon war er

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