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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nicht halb so überzeugt, wie er vorgab, aber er hoffte, dass Achards Männer sich nicht auf eine Hängebrücke wagen würden, die nur noch an der Hälfte ihrer Halterungen hing. Außerdem würde das ganze Ding wild hin und her schwanken, sobald ein Mensch oder gar ein Pferd es betrat.
    Er versuchte, die Männer in der Ostwand zu ignorieren, und konzentrierte sich ganz auf den Strick. Tiessa aber warf immer wieder Blicke hinüber.
    »Ich glaube …«, begann sie, »ja, jetzt haben sie uns gesehen!«
    »Mach weiter!« Das war der Tonfall, in dem sein Vater zu seinen Kindern gesprochen hatte, und Faun fand es abscheulich, den gleichen Klang aus seinem eigenen Mund zu hören. Aber sie durften jetzt nicht aufgeben!
    Rufe ertönten, Männer sprangen auf Pferde. Zwischen der Sammelstelle am Rand des Fichtenhains und dem Beginn der Brücke lagen etwa hundert Schritt. Sie würden nicht lange brauchen, ehe sie heran waren.
    Fauns Klinge sackte durch das Seil. Die letzten Fasern zersprangen. Die Brücke kippte um eine Winzigkeit nach rechts.
    Er schob Tiessa beiseite. »Mach unten weiter. Vielleicht reißt sie dann.«
    Sie wechselte die Seite und fiel auf die Knie. Hektisch machte sie sich an einem der beiden Bodenseile zu schaffen, während Faun seinen Dolch tiefer in die Kerbe trieb, die Tiessa bisher zustande gebracht hatte.
    Die Rufe wurden lauter. Wilde Drohungen, die sich im Lärm des reißenden Wassers und dem Prasseln weiterer Erdrutsche verloren. Der Schimmel und die Stute tänzelten in Todesangst, und es würde nicht mehr lange dauern, ehe sie sich ohne ihre Reiter davonmachten.
    »Wir schaffen`s!«, brachte Faun hervor, als er das zweite Seil mit einem beherzten Sägestoß zerfetzte. Die Brücke begann zu schlingern und zu schwanken.
    »Sie haben Armbrustschützen!« Tiessa hatte die Worte kaum ausgestoßen, als sich keine Mannslänge neben ihr ein Bolzen ins Erdreich fräste.
    »Aufs Pferd!«, schrie Faun.
    Tiessa zog sich in den Sattel des Schimmels. Aufgeregt sah sie, dass Faun jetzt dort kauerte, wo sie gerade selbst noch gekniet hatte. Wenn es ihm gelang, das dritte Seil –
    Ein weiterer Armbrustbolzen schlug unmittelbar vor ihm ins Holz des Überwegs.
    »Faun! Komm schon!«
    »Gleich!« Er sägte weiter.
    Fast ein Dutzend Männer hatte sich jetzt am anderen Ende der Brücke versammelt. Sie zögerten, ihre Pferde auf das schwankende Konstrukt zu lenken. Achard war noch nicht unter ihnen; er hätte sie wohl mit Gewalt vorangetrieben.
    Der dritte Bolzen sauste an Fauns Schädel vorbei. Mit einem zornigen Aufschrei hieb er den letzten Rest des Stricks entzwei. Fasern zersprangen. Ein furchtbares Knirschen ertönte, dann spannte sich nur noch ein einziges Bodenseil über den Abgrund, an dem die Holzstämme des Überwegs senkrecht herabbaumelten. Drüben schrien mehrere Männer auf, einer zog gerade noch sein Ross zurück, ehe es ihn in den Abgrund reißen konnte.
    Achard von Rialt kam in gestrecktem Galopp aus dem Fichtenhain geritten, fluchend und mit wehendem Haar.
    Faun wartete nicht, bis der Raubritter seine Männer erreichte. Die Kräfte verließen ihn so abrupt, dass er fürchtete, es nicht mehr in den Sattel der Stute zu schaffen. Das Bündel auf seinem Rücken schien mit einem Mal viel schwerer, so als wollte es ihn nach hinten zerren. Endlich richtete er sich auf dem Rücken des Pferdes auf, dann preschten sie auch schon davon, durch Wolken aus Staub und prasselnden Steinchen, den Weg entlang nach Süden, dem Pass entgegen.
    Sie hörten Achard hinter sich brüllen, aber weder seine Worte noch die Bolzen seiner Armbrustschützen konnten sie nach der nächsten Kehre erreichen. Faun sackte im Sattel vornüber, das Grollen des Drachen im Ohr – oder das Bersten des Berges? – hielt sich blindlings fest und überließ es seinem Pferd, Tiessas Schimmel in den grauweißen Morgen zu folgen.

Die Unsterblichen
     
    Als Maria nach dem rostigen Dolch tastete, stellte sie fest, dass er verschwunden war. Erschrocken blickte sie am Hals des Schiachtrosses vorüber zum Bethanier, der abgestiegen war, um ein Holzgatter zu öffnen; Hirten hatten es über den Weg gebaut, damit sich das Vieh nicht vom Anwesen ihres Herrn auf das des Nachbarn verirrte. In diesem Augenblick konnte der schwarz gerüstete Riese nicht sehen, was Maria oben im Sattel tat.
    Angespannt schob sie ihre Hand tiefer in das Gepäck. Seit sie den Dolch dort versteckt hatte, kämpfte sie mit der Ungewissheit darüber, ob der Bethanier die Klinge

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