Herrin der Lüge
du Gold dafür bekommst?«
Der Bethanier hob den rechten Arm und zeigte nach vorn. Das Land wurde flacher, die Anhöhen liefen auseinander wie verwässerter Teig. »Kannst du etwas sehen, dort vorn, sehr weit entfernt?«
Sie blinzelte in die Richtung, in die sein behandschuhter Finger zeigte. Ganz am Ende der Ebene schien etwas den Silberglanz des Wasserstreifens zu verdecken, aber sie konnte nicht erkennen, was es war. Dann begriff sie plötzlich.
»Wir reiten in eine Stadt? Das sind Häuser, oder?« »Ja. Das ist Venedig.«
Davon hatte sie nie gehört. In den Sümpfen hatte kaum jemand von Städten gesprochen, außer manche Pilger, die die Armut der Sumpfbewohner verspotteten, indem sie beteuerten, wie sehr sie sich auf die nächste Stadt und ein Lager ohne Flöhe freuten.
»Und was willst du dort?«, fragte sie.
»Ich muss meine Arbeit tun.« »Leute töten.«
Er gab keine Antwort.
»Ich glaube, du kannst gar nichts anderes«, sagte sie.
Sie konnte spüren, wie er sich einen Augenblick lang hinter ihr im Sattel versteifte. Immer wenn er das tat, begann ihr Herz zu rasen, als wollte es sie davor warnen, ihn zu reizen.
Er nickte. »Es ist das, was ich am besten kann.«
Drittes Buch
D IE A RCHEN D ER
V ERDAMMTEN
»W IR SIND DIE EINZIGEN T IERE ,
DIE LÜGEN KÖNNEN .«
U RSULA K. L E G UIN
Die zerrissene Stadt
Mailand war eine alte Stadt, aber das erkannte man nicht auf den ersten Blick. Vorstädte schmiegten sich an die oft zerstörte und immer wieder neu errichtete Stadtmauer und machten es flüchtigen Betrachtern schwer, den alten Römerstadtkern von den neuen Vierteln zu unterscheiden. Viele Konflikte um die Pässe der Alpen, die Handelsrouten in den Süden und den Zugang zur adriatischen See waren hier entschieden worden, und stets war der Blutzoll hoch gewesen. Keine fünfzig Jahre lag der letzte Einfall eines kaiserlichen Heers zurück, das große Teile der Altstadt zerstört und die Umsiedlung der Bevölkerung in eilig errichtete Außenquartiere nötig gemacht hatte.
Doch trotz aller Kriege und blutigen Streitigkeiten mit den anderen Handelszentren Norditaliens war Mailands schlimmster Feind stets Mailand selbst gewesen. Bürgerkriegsähnliche Zustände waren eher die Regel als die Ausnahme, und obgleich mittlerweile ein wenig Friede eingekehrt war, brodelte es auch heute noch unter der Oberfläche. Saga und die anderen spürten das sofort, als sie die Stadt von Norden her betraten.
»In Mailand regiert das Unglück«, sagte Gräfin Violante, die jetzt ebenso wie Saga und Zinder auf einem Pferd an der Spitze des angeschlagenen Heerzugs ritt. Es hatte sich als richtige Entscheidung erwiesen, die Wagen auf Hoch Rialt zurückzulassen. »Die Stadt ist zerrissen von Kämpfen im Inneren, zwischen den Großkaufleuten, dem Adel und der Kirche. Dabei ballt sich hier alle Macht über Oberitalien. Mailand kontrolliert die Wege zu den Gebirgspässen im Norden, den Hafen von Genua, im Grunde genommen alle Straßen nach Rom und Venedig. Vielleicht ist das einfach zu viel Machtfülle für eine einzige Stadt. Die Menschen zerfleischen sich hier seit einer Ewigkeit gegenseitig.«
Beim Betreten der Stadt waren Saga mindestens fünf verschiedene Soldatengarden aufgefallen. Unterschiedlich gewandet und voller Argwohn bewachten sie das Tor nicht allein vor Eindringlingen, sondern offenbar auch voreinander. Die Tatsache, dass für den Zug der Frauen nicht ein einzelner Wachtrupp, sondern gleich drei abgestellt wurden, unterstrich die Zerrissenheit dieses Ortes.
Die Führungsspitze des Zuges um Saga, Violante und Zinder wurde zum Palast des Erzbischofs geführt, dem Cousin der Gräfin, während die übrigen Hundertschaften erschöpfter Mädchen in ein Lager im Süden der Stadt gebracht wurden. Saga sah sie zwischen den Häusern verschwinden und empfand gleichermaßen Erleichterung und Beklemmung. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie das Gefühl, frei durchatmen zu können – und verspürte zugleich einen Anflug von Sorge. Für diese Mädchen war sie die Magdalena, ob sie wollte oder nicht, und sie folgten nur ihr, niemandem sonst. Violante hatte dies ebenfalls erkannt und machte keinen Hehl daraus, wie sehr es ihr missfiel, dass ihre eigene Rolle in dieser Unternehmung immer stärker an Bedeutung verlor.
Man hatte ihnen erklärt – gleich mehrfach, denn jeder Hauptmann ihrer drei Eskorten hatte darauf bestanden, eigene Begrüßungsworte an sie zu richten –, dass sich südlich der
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