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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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kein Loch sein! Nicht in meinem Gesicht!
    Sie verlor den Halt, wollte sich auffangen, prallte mit der Schulter gegen den Mast, sackte nach vorn. Die gegenüberliegende Brüstung verhinderte, dass sie abstürzte, und als sie mit ihrem einen, blutgetränkten Auge einen Blick in die Tiefe erhaschte, sah sie dort zwei Gestalten im Netz hängen. Zwei Menschen, die auf bizarre Weise aneinander klebten, der eine weit beweglicher als der andere, flink und schnell wie eine Katze.
    Karmesin.
    Sie war splitternackt. Der Lärm musste sie geweckt haben, und nun war sie hier, als Erste oben in den Wanten, und in ihrer Hand glitzerte eine Waffe, nicht ihre eigene, sondern die Sichelaxt des Fremden, die sie ihm abgenommen hatte und jetzt zurückgab – mit der Schneide voraus, geradewegs in die Brust.
    Der Mann verlor seinen letzten Halt, als die Waffe sein Brustbein spaltete. Stumm rutschte er ein Stück am Netz hinab, stürzte seitlich über den Rand und krachte nach kurzem Fall aufs Deck. Ein Aufschrei ging durch die versammelten Mädchen, die panisch auseinander sprangen. Die nackte Karmesin, silbrig schimmernd im Mondlicht, war nur einen Augenblick später unten, rasend flink wie eine Spinne. Ihre Knie stießen in den Rücken des leblosen Körpers, ihre Hand zerrte ein Messer aus seinem Gürtel – dann führte sie die Klinge mit einem tiefen, sauberen Schnitt von hinten über seine Kehle.
    Saga sackte zusammen, lag mit angezogenen, verdrehten Beinen am Boden des Mastkorbs und hatte das Gefühl, dass die Welt ganz woanders war, sehr weit weg von ihr.
    Später, viel später erwachte sie in tiefer Dunkelheit und hörte eine Stimme.
    »Dein Bruder ist frei«, flüsterte Violante sanft. »Lange vor den Bergen habe ich einen Boten nach Hause geschickt, mit dem Befehl, ihn laufen zu lassen … Ich wollte, dass du das weißt.«
    Sterbe ich?, fragte sie. Aber die Worte kamen nicht über ihre Lippen. Bin ich blind?
    »Schlaf jetzt weiter.« Faun ist frei? Ich hätte ihn gern noch mal gesehen. Ihr Gesicht fühlte sich an wie abgeschält. Gar nicht wie ihr Gesicht. Schlaf weiter. Ich schlafe.
    Du lebst. Alles wird gut.
    Faun …?

Fonticus
     
    Faun ergriff Tiessas Hand, als das kleine Boot in einen Seitenkanal schaukelte, und ließ sie nicht mehr los, bis sie an Land gingen. Er spürte, dass sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf, schaute selbst aber weiter nach vorn, nicht so sehr, weil ihn die Häuser dieser seltsamen Stadt auf dem Meer so faszinierten, sondern weil er Angst davor hatte, was er in Tiessas Augen lesen würde. In seinem Bauch rumorte es, und das lag nicht am Hunger.
    »Da es ist«, sagte der Venezianer, der das schlanke Boot mit einem Stab den Kanal entlanglenkte. Mit einem Kopfnicken deutete er auf ein breites Gebäude am rechten Ufer. »Fonticus. Der Handelshof der Deutschen. Gibt viele Deutsche hier in Venedig. Lohnt sich, eure Sprache sprechen. Viele gute Kundschaft, davon.«
    Sie legten an einer steinernen Treppe an, die aus dem Lagunenwasser heraufführte wie das Überbleibsel einer zweiten, längst im Meer versunkenen Stadt. Seit Faun und Tiessa am Morgen in Venedig angekommen waren, hielt die sonderbare Stimmung dieses Ortes sie fest im Griff. Egal, wohin sie blickten, es gab überall Hinweise auf versteckte Rätsel. Hinter allem und jedem schien sich eine geheime Wahrheit zu verbergen. So wie hinter dieser Treppe, die aus den Tiefen der Lagune heraufführte, als gäbe es dort unten etwas, zu dem sich hinabzusteigen lohnte.
    Glanzvolle Paläste erhoben sich neben schlichten, vielfach geflickten Holzhäusern, die noch aus der Zeit der frühen Besiedlung der Laguneninseln stammten. Menschen aus aller Herren Länder fuhren in Booten über die verschlungenen Wasserwege und redeten in vielen Sprachen durcheinander, trugen mal farbenfrohe, mal schlichte Kleidung, hatten helle, gebräunte oder schwarze Haut. Seit Tiessa und Faun mit einem Boot vom Festland auf die Inseln übergesetzt waren, hatten sie die Münder vor Staunen kaum mehr zugemacht. Alles war neu, war wunderbar.
    Venedig empfing sie mit offenen Armen. Schweren Herzens hatten sie vor dem Übersetzen die beiden Pferde verkauft, und nun, da sie wieder ein wenig Geld in den Taschen hatten, kannte die Freundlichkeit der Einheimischen keine Grenzen. Ein fliegender Händler hatte ihnen ihre erste warme Mahlzeit seit Tagen verkauft, scharf gewürztes Fleisch in einem golden gebackenen Brotmantel, und sich dabei vor Höflichkeit fast überschlagen. Als sie nach

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