Herrin der Lüge
näherten sich dem Mädchen. Alle hatten ihre Lanzen gesenkt, als ginge von dem Kind eine ernst zu nehmende Gefahr aus. Eine der Frauen näherte sich der Kleinen von hinten. Das Mädchen wirbelte erschrocken herum – vielleicht hatte es jemand anderen erwartet –, verlor dabei die erste Wächterin aus den Augen und wurde plötzlich von ihr gepackt. Der Dolch schepperte zu Boden, das Mädchen strampelte, konnte sich aber aus dem Griff nicht befreien. Erst als die Kleine der Wächterin in die Hand biss, ließ diese sie mit einem Aufschrei los. Vielleicht hätte sie in diesem Augenblick fortlaufen können, wahrscheinlich hätte man sie sogar entwischen lassen – doch das wollte sie allem Anschein nach überhaupt nicht. Sie blieb stehen und rief etwas. Dann versuchte sie, an den Kriegerinnen vorbeizuschlüpfen, nicht um zu entkommen, sondern … ja, um sich hinter ihnen zu verstecken!
Sagas Blick huschte hinüber zur Gassenmündung. Halb erwartete sie, dass jemand dort hervorgeschossen käme und sich auf die Wächterinnen stürzte.
Aber niemand erschien.
Alles blieb ruhig.
Saga stemmte sich im Sitzen auf gestreckten Armen nach oben und zog die Beine unter sich hindurch ins Innere des Mastkorbs; einer von vielen Verrenkungstricks, die ihr in den Jahren auf dem Seil in Fleisch und Blut übergegangen waren. Ihre Muskeln und Gelenke schmerzten, ihr fehlte die Übung.
Im Mastkorb kam sie zum Stehen, machte sich aber noch nicht an den Abstieg. Etwas ließ sie zögern. Vielleicht die Tatsache, dass das Mädchen sich nicht entscheiden konnte, was es wollte. Gerade noch hatte es sich hinter den Wächterinnen in Sicherheit gebracht, da schien es sich plötzlich anders zu entscheiden und doch noch die Flucht zu ergreifen. Jetzt aber waren es die drei Wächterinnen leid. Eine hielt die Kleine am Mantel fest, zerrte sie zurück und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Das Mädchen schrie auf. Eine andere Frau wollte einschreiten und ihre Gefährtin beruhigen, und nun entbrannte ein wortreicher Streit zwischen ihnen.
Die beiden Leibwächterinnen unten auf dem Deck hatten ein paar Schritte nach vorn gemacht, näher an die Reling, um das Geschehen an Land besser verfolgen zu können. Auch Sagas Blick war fest auf den Streit am Ufer gerichtet, in den nun die dritte Wächterin schlichtend eingreifen wollte. Das Kind stand zwischen ihnen, immer noch von einer der drei am Arm gepackt und vor Schmerz leicht vornübergebeugt.
Saga nahm sich keine Zeit, um passende, würdevolle Worte zu finden, die ihrem Status an Bord entsprochen hätten. Stattdessen brüllte sie: »Aufhören, verdammt noch mal! Sofort!«
Im ersten Moment geschah gar nichts. Das Gerangel um das Kind ging weiter, niemand blickte auf.
»In drei Teufels Namen!«, fluchte Saga. »Werdet ihr wohl auf der Stelle damit aufhören!«
Ihre Leibwächterinnen waren die Ersten, die reagierten. Sie brüllten zu den Frauen an Land hinüber, dass die Magdalena persönlich ihnen befehle, voneinander abzulassen. Irritiert schauten die drei Wächterinnen zum Hauptdeck, dann, auf einen Wink der Leibwächterinnen hin, am Mast hinauf. Saga stand dort oben im Dunkeln.
»Bringt dieses Kind an Bord!« Sie hatte wütend die Hände in die Hüften gestemmt. »Es soll verhört werden. Aber brecht ihm, um Gottes willen, nicht den Arm!«
Die Kleine rief etwas, das Saga nicht verstand – auf Italienisch, vermutete sie, in irgendeinem Dialekt –, gestikulierte mit der freien Hand zurück zu den Häusern und versuchte zugleich, sich von dem Mädchen in Kettenhemd und Helm zu lösen. Eine der anderen packte sie am Oberarm und schob sie weniger grob aber mit Nachdruck in Richtung des Schiffes. Gleichzeitig mühten sich an Bord zwei weitere Wächterinnen mit einer Planke ab und schoben sie als Steg zum Ufer hinüber.
Saga atmete tief durch, nicht sicher, ob sie einen Fehler begangen hatte. Sie war die Magdalena, die Predigerin dieses Kreuzzuges, und keine Befehlshaberin wie Berengaria oder Violante. Es stand ihr nicht zu, in Angelegenheiten der Wachhabenden einzugreifen. Erst recht nicht mit gotteslästerlichen Flüchen. Aber es war zu spät, um sich Gedanken zu machen. Violante würde ihr früh genug einen ihrer endlosen Vorträge darüber halten.
Sie wollte gerade nach unten steigen, als sie bemerkte, dass eine der Wanten, die von beiden Seiten des Schiffes zum Mastkorb heraufführten, erzitterte. Saga selbst war über die zum Ufer gewandte Steuerbordseite geklettert. Sie beugte sich über
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