Herrin der Lüge
die Brüstung und blickte in die Tiefe. Doch sie erkannte nichts. »Ist da jemand?«, fragte sie.
Alles blieb still. Sie musste sich getäuscht haben.
Unten herrschte Stimmengewirr und Lärm, als das lamentierende Kind über den Steg an Bord gebracht wurde. Eine der beiden Leibwächterinnen stand an der Reling und erwartete die Wächterinnen und ihre Gefangene. Grob drängte sie die anderen Mädchen beiseite, um selbst einen Blick auf die Kleine zu werfen. Die zweite Leibwächterin war wieder an ihren Platz am Fuß der Steuerbordwanten zurückgekehrt, hatte aber dem Kletternetz an Backbord den Rücken zugewandt.
Saga machte einen halben Schritt zurück. Wieder dachte sie, dass sie am Rand ihres Blickfelds etwas gesehen hätte. Diesmal wartete sie nicht ab, ob sich die Bewegung wiederholte. Mit einem Sprung schwang sie sich über die Brüstung und wollte am Netz auf der Steuerbordseite in die Tiefe klettern. Sie hatte gerade noch eine Hand an der Brüstung, als die Taue unter ihr nachgaben. Etwas blitzte stählern im Mondlicht, beschrieb einen blitzschnellen Bogen und hackte ein zweites Mal in die Steuerbordwanten. Die Gestalt hatte sich herübergebeugt, keine drei Schritt mehr vom Ausguck entfernt, und schlug mit einer sichelförmigen Klinge nach den gegenüberliegenden Haltetauen.
Ein dritter Treffer.
Von einem Herzschlag zum nächsten hatte Saga keinen Halt mehr unter den Füßen. Ein Schrei kam über ihre Lippen, als sie sekundenlang mit einer Hand am Mastkorb hing, sich gerade noch abfing und mit beiden Händen wieder nach oben zog. Das durchtrennte Netz sackte in die Tiefe.
Von unten wurden erschrockene Rufe laut. Plötzlich war das Kind vergessen, obwohl das kleine Mädchen am lautesten schrie und auf den Mastkorb zeigte.
Saga baumelte mit beiden Armen an der Brüstung des Ausgucks, und in diesem Moment sah sie ihn. Ein Mann – es musste ein Mann unter dieser Kapuze stecken, so riesig und breitschultrig wie er war – erklomm gerade von der gegenüberliegenden Seite das letzte Stück bis zur Plattform. Wenn er vor ihr dort ankam, hatte sie keine Chance.
Sie stieß einen zornigen Schrei aus und zog sich mit aller Kraft nach oben. Jahrelange Übung machte sich bezahlt, als sie blitzschnell aufwärts glitt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Silbersichel ein weiteres Mal aufblitzte und diesmal nur um Haaresbreite ihre Beine verfehlte. Dann war sie oben, schwang einen Fuß über die Brüstung, dann den anderen. Taumelnd kam sie im Mastkorb zum Stehen, noch bevor der Fremde seinerseits eine Hand auf den Holzrand legen konnte.
Sie hatte keine Waffe, nichts, mit dem sie auf ihn einschlagen konnte. In aufwallender Panik irrte ihr Blick umher, suchte etwas, um sich zu verteidigen, oder – besser noch – einen Fluchtweg.
Es gab keinen. Der einzige Weg nach unten führte über das Netz, dessen oberes Ende der Fremde im selben Moment erreichte. Weiße lange Finger schoben sich über die Brüstung, gefolgt vom dunklen Dreieck der Kapuze. Saga erkannte, dass die Kleidung des Mannes durchnässt war; er musste um die Santa Magdalena herumgeschwommen sein und war unbemerkt von Backbord her über die Reling geklettert, während alle Augen auf das Mädchen am Ufer gerichtet gewesen waren.
Saga wollte auf die Hand des Fremden einschlagen, überlegte es sich im letzten Moment anders und stieß die Faust geradewegs in die Öffnung seiner Kapuze. Sie traf auf knochigen Widerstand, aber ohne Erfolg: Seine zweite Hand, die noch immer die Sichelaxt hielt, schob sich über den Rand des Ausgucks.
Verzweifelt wagte Saga etwas, dass sie sich unter anderen Umständen dreimal überlegt hätte. Statt weiter auf den Mann einzuschlagen, zog sie sich zur anderen Seite des engen Mastkorbs zurück, stemmte die Hände zu beiden Seiten ihres Körpers auf den Haltering und stieß sich nach oben ab. Ihre Füße federten von der Plattform, sie winkelte im Sprung die Knie an – und landete schwankend auf dem Geländer, mit dem Rücken zum Abgrund, kauerte einen Herzschlag lang da wie ein Vogel, fand ihr Gleichgewicht wieder und richtete sich freihändig auf.
Im selben Moment wollte sich der Fremde auf der anderen Seite des Mastkorbs über die Brüstung ziehen. Sein Mantel öffnete sich und entblößte schwarze, nassschwere Kleidung, mit Salzwasser getränkt wie alles, das er am Leib trug. Der Mann war ungeheuer groß, und das mochte ihm anderswo zum Vorteil gereichen – hier aber, in dieser Enge und Höhe, behinderte es ihn.
Wortlos
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