Herrin der Lüge
einem Boot gesucht hatten, das sie zum Fonticus bringen sollte, hatten sich gleich ein halbes Dutzend Bootsleute angeboten. Faun und Tiessa hatten sich für jenen entschieden, der am besten ihre Sprache verstand, weil beide es gründlich leid waren, sich mit Händen und Füßen zu verständigen.
Vor ein paar Tagen hatten sie in Mailand erfahren, dass der Heerzug der Magdalena bereits nach Venedig weitergezogen war; und nun, in Venedig, erzählte man ihnen, die Flotte sei drei Tage zuvor in See gestochen. Faun konnte kaum glauben, dass er Saga erneut so knapp verpasst hatte.
Doch sein Zorn und seine Enttäuschung hatten sich inzwischen gelegt. Der Anblick Venedigs beschäftigte alle seine Sinne und ließ kaum Raum für weitere Gefühle – abgesehen vielleicht von der Freude, die es ihm bereitete, Tiessa heimlich zu beobachten, wenn sie staunend auf die vorübergleitenden Fassaden starrte.
Sie bezahlten den Bootsmann und traten durch den Torbogen des Fonticus. Am Ende eines breiten Gangs voller Menschen lag ein Innenhof, über den sich ein verwinkeltes Holzgestänge spannte. Bei schlechtem Wetter wurde der Hof abgedeckt, damit die Geschäfte weitergehen konnten. Heute aber brannte die Sonne auf eine Vielzahl von Ständen und Verkaufsbühnen herab. Aus allen Richtungen schrien Stimmen durcheinander, priesen Waren an, riefen Gebote. Die meisten verhandelten auf Deutsch, andere auf Lateinisch, Italienisch oder in Sprachen, die Faun nie gehört hatte. In den Auslagen sah er Seidenballen und Gewürzkrüge, Bernstein, Pelze und Korallen. Es gab Schweinehälften und edlen Fisch, Arzneimittel und tönerne Weinballons. Pfeffer wurde in unterschiedlichen Qualitäten angeboten, außerdem Öle, Häute und stinkender Tran. Manch einer schleppte Säcke mit Getreide zum Ausgang, andere trugen Kisten mit Töpferwaren herein und fluchten über jeden, der ihrer zerbrechlichen Last zu nahe kam. Weinfässer wurden polternd übers Pflaster gerollt, Käfige mit Tieren transportiert, und es war schlichtweg unmöglich, länger als ein paar Sekunden an derselben Stelle zu stehen, weil immer irgendjemand irgendwohin wollte und man meist gleich mehreren Händlern und Knechten im Weg stand.
Faun beugte sich zu Tiessa hinüber. Blonde Haarspitzen rollten sich über ihren Ohren nach oben und kitzelten seine Nase. Sie sah ihn von der Seite an und lächelte. »Hast du eine Idee, wie es jetzt weitergehen soll?«
Er grinste. »Wir müssen nur jemanden finden, der uns für wenig Geld sein Schiff und seine Mannschaft verkauft.«
»Warum versuchen wir nicht, jemanden zu finden, der uns sagen kann, wohin genau deine Schwester und die anderen unterwegs sind?«
»Ins Heilige Land, denke ich.«
Sie verdrehte die Augen. »Und auf welcher Route?«
Verblüfft sah er sie an. »Davon gibt’s mehrere?«
Mit einem Seufzen ließ sie ihn stehen und wandte sich an einen Händler, der billige Schmuckstücke aus Leder und Holz verkaufte. Sie redete auf ihn ein, schüttelte den Kopf, als er ihr eine Kette aufschwatzen wollte, und kam schließlich zurück zu Faun.
»Er meint, es gäbe ganz in der Nähe ein Wirtshaus, in das nur Deutsche gehen. Vor allem Seeleute, sagt er. Die Wirtin ist die Einzige weit und breit, die deutsches Bier über das Gebirge bringen lässt. Seit ein paar Tagen sollen dort Söldner herumlungern, die mit dem Heer der Magdalena aus Mailand gekommen sind.«
Faun war dankbar, das Gedränge des Fonticus hinter sich zu lassen. Zwei Gassen weiter blieben sie vor einer Gasthaustür stehen. Es roch nach gebratenem Fleisch und Kohl. Über den Eingang war ein Brett genagelt, in das jemand mit glühendem Eisen Buchstaben eingebrannt hatte. Unter dem Dreck vieler Jahrzehnte war kaum mehr zu erkennen, ob das Haus aus Holz oder Stein bestand.
»Gehen wir rein?«, fragte Tiessa.
Er zögerte. »Sieht nicht aus wie ein Ort für junge Mädchen.«
»Oh, Faun, bitte! «
»Ich mache mir Sorgen, das ist alles.«
Plötzlich küsste sie ihn auf die Wange. »Das ist lieb von dir … Gehen wir jetzt rein?«
»Ich mach mir noch größere Sorgen, wenn du so was tust.«
»Was?«
Er berührte seine Wange. »Das, eben.«
Sie wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als die Tür des Gasthofs aufflog.
Ein Mann landete zu ihren Füßen auf dem Gesicht und stemmte sich unbeholfen hoch. Er war ein großer, stattlicher Kerl, aber im Augenblick bot er einen erbärmlichen Anblick. Erbrochenes klebte wie der Schatten eines Diadems an seinem ledernen Wams, und
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