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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sprang Saga von ihrer erhöhten Position auf der Brüstung auf ihn zu, bekam im Sprung die Mastspitze in der Mitte des Ausgucks zu packen, hielt sich mit beiden Händen fest und zerrte in der Luft die Füße nach vorn. Ihre Stiefel schlugen gegeneinander, rasten vorwärts, genau auf den Kopf des Angreifers zu. Er wollte ausweichen, während er noch immer über der Brüstung hing, war aber nicht schnell genug. Sagas verzweifelter Tritt traf ihn mitten ins Gesicht. Die nasse Kapuze wurde nach hinten geschleudert, sein Schädel, der ganze Oberkörper sackten zurück.
    Die Zeit erstarrte. Der Mann hing im Leeren. Seine Hand mit der Axt hatte sich vom Mastkorb gelöst, hielt aber noch immer die Waffe. Die linke Hand an der Brüstung musste sein ganzes Gewicht tragen, dazu noch den Schwung von Sagas Tritt auffangen.
    Aussichtslos. Ohne einen Laut stürzte er hintenüber und verschwand aus Sagas Sichtfeld.
    Als der Mann fiel, war auch Saga noch in der Luft und hatte alle Mühe, sich mit beiden Händen am Mast abzufangen. Ihre Linke rutschte ab, aber ihre Rechte saß fest genug, um sie vor einem Sturz in den Abgrund zu bewahren. Schreiend prallte sie im Inneren des Mastkorbs auf, wurde aufgefangen wie von einer offenen Hand. Sie schrammte mit dem Hinterkopf an der Innenwand des Korbs entlang. Ihr einer Fuß verhakte sich an der gegenüberliegenden Brüstung, und als sie endlich irgendwie zum Liegen kam, erfüllt von brüllendem Schmerz, hatte sie das Gefühl, jemand habe sie ausgewrungen wie ein nasses Tuch und verdreht in ein viel zu enges Loch gestopft.
    Die Schreie von unten hörte sie kaum. Vielleicht war jemand auf dem Weg zu ihr, und wenn diejenige Glück gehabt hatte, war sie nicht von dem stürzenden Fremden getroffen worden.
    Mit geprellten Gliedern und tosendem Kopfschmerz drehte sie sich weit genug, um aufzustehen. Es war kein Aufrichten, eher zog sie sich auf die Beine, unbeholfen, schmerzerfüllt, aber sicher genug, um einen Blick über die Brüstung zu riskieren.
    Die Sichel zuckte auf sie zu.
    Der Stahl zerschnitt ihre linke Wange, tief genug, dass sie die Klingen über ihre Zähne schrammen spürte. Sofort war ihr Mund voller Blut, es erstickte ihren Schrei und sprühte als Schwall in den Abgrund. Dunkles Rot sprenkelte das weiße Gesicht des Mannes, der sich im Sturz am Netz hatte festhalten können und nun schon wieder bei ihr war. a Sie taumelte zurück, hielt sich die klaffende Wunde und war auf einem Auge blind. Schreie kamen über ihre Lippen, die sie nicht kontrollieren konnte, so als wäre da ein anderer, der diese Laute aus ihrem Inneren emporpumpte, zusammen mit dem Blut immer mehr Blut. Ihr Gesicht stand in Flammen, fühlte sich an wie zertrümmert, und noch immer konnte sie links nichts sehen und auch vor ihrem rechten Auge war ein roter Schleier.
    Der Mann mit der Axt erschien über der Brüstung. Zum zweiten Mal.
    Für einen Schlag, gar einen Sprung wie vorhin, fehlte ihr die Kraft. Die Schmerzen machten sie halb wahnsinnig, und die Tatsache ihrer einseitigen Blindheit raubte ihr jeden Rest von Gleichgewicht.
    Vorbei!, durchfauchte es sie. Jetzt tötet er dich.
    Du bist schon tot.
    Wieder stemmte er sich über den Rand, das Gesicht voller Blut. Ihr Tritt hatte seine Nase zertrümmert und – Ironie des Schicksals – sein linkes Auge zerquetscht. Aber im Gegensatz zu ihr hatte er noch immer genügend Kraft, um weiterzumachen, nicht aufzugeben.
    Saga schwankte zur Seite und brachte taumelnd die Mastspitze zwischen sich und ihn. Als er noch im Klettern erneut mit der Sichelaxt ausholte, kam die Schneide nicht bis zu ihr, sondern fuhr knirschend ins Holz – und blieb stecken.
    Sie erwartete, dass er sich endgültig über die Brüstung zog, aber plötzlich verharrte er. Seine Hand riss die Axt zurück. Er selbst hing mit dem Oberkörper von außen über der Brüstung, machte aber keine Anstalten mehr, zu Saga ins Innere zu klettern. Sein Gesicht zuckte, tiefe Falten gruben sich in seine Stirn – dann rutschte er rückwärts nach unten, schleifte außen am Korb entlang und verschwand zum zweiten Mal aus Sagas Blickfeld.
    Vor Schmerz war sie kaum noch bei Bewusstsein. Ihre Zunge konnte nicht aufhören, von innen über die Zähne zu zucken, entlang dieser grässlichen, fremden Hautlappen, die einmal ihre Wange gewesen waren. Kühle Luft drang in ihren Mund, nicht über die Lippen, sondern durch eine Öffnung, die eigentlich gar nicht da sein durfte. Das war alles, was sie denken konnte: Da darf doch

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