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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Geschmack eines bitteren Kräutersuds, den sie dreimal am Tag von innen auf die vernähte Wunde streichen musste, hatte sie sich gewöhnt. Ihr Atem roch danach, aber die meisten an Bord hielten ohnehin respektvollen Abstand, selbst Berengaria. Saga hatte das Gefühl, dass sie die riesenhafte Söldnerin verunsicherte; womöglich, weil diese ihr nicht zugetraut hatte, so rasch wieder auf die Beine zu kommen.
    Erst jetzt – vier Tage nach Sagas erstem Erscheinen an Deck – rief ihr Auftauchen bei der Mannschaft und den Kreuzfahrerinnen kein Erstaunen mehr hervor. Doch immer noch gingen die meisten ihr aus dem Weg. Den Wenigen, die mit ihr sprachen, konnte man die Anstrengung ansehen, die es sie kostete, ihren Blick von der grässlichen Wunde fern zu halten. Saga trug nun keinen Verband mehr, nur eine Schicht aus Heilsalbe, mit der sie die Naht mehrmals am Tag bedeckte.
    Das Wetter war heiß und schwül. Durst war auf allen Schiffen der Flotte zu einem ernsten Problem geworden, aber Kapitän Angelotti weigerte sich, öfter als bisher zu ankern und Trinkwasser an Bord zu nehmen. Seit dem Niedergang des byzantinischen Reiches tummelten sich Gesetzlose an den Küsten des zerfallenen Imperiums, erklärte er; auf dem Meer sei es schon unsicher genug, doch an Land vervielfache sich das Risiko. Auch als die ersten Skorbutfälle auftraten und den Kranken das Zahnfleisch abgeschabt werden musste, damit sie Nahrung aufnehmen konnten, gab der Kapitän nicht nach. Von einigen Schiffen trafen Berichte über wachsende Unruhe und schlechte Moral ein. Die Priester beteten jetzt noch öfter mit den Mädchen für einen guten Fortgang der Reise.
    Sagas Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Karmesin sagte etwas zu Jorinde, dann schauten beide in Sagas Richtung. Sie fühlte sich ertappt dabei, die beiden angestarrt zu haben, und wollte sich rasch abwenden, als sie Karmesins Stimme hörte: »Magdalena! Bitte wartet!«
    Mit einem unhörbaren Stöhnen gab sie sich einen Ruck und stieg die Treppe zum Achterdeck hinauf. Karmesin und Jorinde kamen ihr entgegen. Die Herrin von Hoch Rialt wollte ihr unter den Arm greifen, um sie zu führen, doch Saga schüttelte den Kopf – was schmerzhafter war als das Treppensteigen oder jede andere Bewegung, aber das ließ sie sich nicht anmerken.
    »Wie geht es dir heute?«, fragte Jorinde.
    »Besser«, erwiderte Saga spröde. »Bald kann ich wieder mit den Zähnen knirschen, ohne vor Schmerzen bewusstlos zu werden.« Tatsächlich fiel ihr vor allem das Sprechen schwer, und sie hatte das Gefühl, schrecklich zu nuscheln. Die Heilerin hatte ihr befohlen, während der nächsten drei, vier Wochen kein Wort zu reden, und die Frau wäre wohl fuchsteufelswild geworden, hätte sie Saga in diesem Moment mit den beiden anderen gesehen. Immerhin war Saga nun der Pflicht ihrer Predigten enthoben, und so erwies es sich wider Erwarten als Glück, dass sie die fünfzig Priester hatten mit auf die Reise nehmen müssen. Die Männer predigten auf allen siebzehn Schiffen ohne Unterlass. Kaum jemand vermisste Sagas Ansprachen; am allerwenigsten sie selbst Den meisten Mädchen genügte es, die Magdalena in ihrer Nähe zu wissen.
    Ich bin ein gottverdammtes Maskottchen geworden, dachte Saga finster.
    Karmesins Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Ihr geht mir aus dem Weg«, stellte die Konkubine unumwunden fest.
    Das überraschte Saga. Sollte sie so eigenbrötlerisch geworden sein, dass sie ihre eigenen Fehler bei anderen suchte? »Ich hatte eher den umgekehrten Eindruck«, sagte sie offen.
    Nicht Karmesin, sondern Jorinde schaute daraufhin schuldbewusst zu Boden. Anfangs hatte sie Saga mehrfach am Tag in ihrer Kabine besucht, aber seit Saga an Deck kam, waren ihre Gespräche seltener geworden. Zeit, so schien es Saga, die Jorinde nun lieber mit Karmesin verbrachte. Herrgott, dachte sie, hör dir nur zu: Du bist eifersüchtig auf die Zuneigung einer Frau.
    »Ich hatte nicht das Gefühl, dass Ihr großen Wert auf meine Nähe legt, Magdalena«, sagte die Konkubine.
    »Ich habe Euch gedankt dafür, dass Ihr mein Leben gerettet habt.« Saga kam es merkwürdig vor, sich wie eine Edle anreden zu lassen. Es war ihr unangenehm. »Lasst uns damit aufhören, uns wie zwei verstockte Burgfräuleins zu benehmen, Karmesin. Ich heiße Saga.«
    Ein Lächeln erschien auf den ebenmäßigen Zügen der Konkubine, das sie fast schmerzhaft schön machte. »Der Gräfin wird das nicht gefallen.«
    »Der Gräfin gefällt vieles nicht, was ich sage

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